Abschiebungen trotz Genozids – Fehlender Schutz für Êzîd*innen

Am 20. November 2023 wird eine êzîdische Familie nachts in ihrem Zuhause in Bayern auseinandergerissen. Mutter, Vater und zwei junge Kinder werden zum Flughafen Frankfurt gebracht, um in den Irak abgeschoben zu werden. Zurück bleiben die beiden ältesten Töchter. Nur wenige Jahre zuvor war die Familie vor dem Terror des Islamischen Staats nach Deutschland geflohen. Diese Abschiebung ist kein Einzelfall und war möglich, trotz des Umstands, dass der Bundestag im Januar des vergangenen Jahres die Verbrechen des „IS“ an den Êzîd*innen als Genozid anerkannt hatte. Dieser jährt sich am 03.08.2024 zum zehnten Mal.

Ohne eine entsprechenden Praxis der deutschen Exekutiven und Verwaltungsgerichte bringt eine symbolische Anerkennung des Genozids den Betroffenen wenig. Deutschland verkennt die weiterhin bestehenden Gefahren für die Êzîd*innen und nimmt damit weitere Menschenrechtsverletzungen an der Religionsgemeinschaft in Kauf, denn Tausende sind derzeit von einer Abschiebung in den Irak bedroht. 

Das Êzîdentum – Von Verfolgung begleitet

Die Êzîd*innen sind eine ethno-religiöse Minderheit, der etwa eine Millionen Menschen angehören. Es handelt sich um eine monotheistische Religion, die seit Jahrhunderten vor allem mündlich tradiert wird. Neben falschen Darstellungen der Minderheit, macht auch die Praxis der êzidischen Glaubensüberlieferung einen Teil der Gründe für ihre Verfolgung aus. Sie seien keine „Leute der Schrift” und sog. Ungläubige. Mit dieser religiös-ideologischen Ansicht wird ihnen eine Daseinsberechtigung abgesprochen. 

Diskriminierung, Massaker und Zwangskonversionen begleiten die religiöse Minderheit seit ihrer Existenz, weshalb die Mehrheit nicht mehr in ihren Heimatländern lebt. In Deutschland findet sich die größte êzidische Diaspora Europas wieder. 

Ihr Hauptheimatgebiet vor der Vertreibung lag im Nordirak, wo sich auch das religiöse Zentrum der Gemeinschaft befindet. Dort fanden am 03. August 2014 die Verbrechen des Islamischen Staats („IS“) vor den Augen der Weltgemeinschaft ihren Anfang. Die islamistische Terrororganisation begann mit der systematischen Verfolgung und dem brutalen Angriff auf die êzîdische Bevölkerung im Nordirak. 360.000 Êzîd*innen wurden aus ihrer Heimat vertrieben, etliche verdursteten nach ihrer Flucht in das Sinjar-Gebirge (kurdisch: Şingal​​). Weder die irakische Armee noch die Peschmerga-Truppen der Autonomen Region Kurdistan griffen ein, sondern flohen und ließen die unbewaffnete Gemeinschaft allein. Familien wurden voneinander getrennt, zwangskonvertiert oder enthauptet. Êzîdische Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt und auf Sklavenmärkten verkauft, Kinder wurden vom „IS” zwangsrekrutiert. Laut UN wurden mehr als 5.000 Êzîd*innen getötet. Mehr als 200 Massengräber wurden bisher gefunden, tausende Frauen und Kinder werden bis heute vermisst. Ziel des „IS” war es, die êzidische Existenz zu vernichten. 

Der Beschluss des Bundestags Mehr Symbolpolitik als echtes Handeln?  

Der Bundestag hatte am 19. Januar 2023 einem gemeinsamen Antrag von Ampelkoalition und CDU zur Anerkennung und zum Gedenken an den Völkermord an den Êzîd*innen 2014 zugestimmt.

Mit diesem Beschluss wurde einerseits die symbolisch wichtige Anerkennung des Genozids festgeschrieben. Andererseits war damit auch die Aufforderung des Bundestags an die Bundesregierung verbunden, „Êzîdinnen und Êzîden weiterhin unter Berücksichtigung ihrer nach wie vor andauernden Verfolgung und Diskriminierung im Rahmen des Asylverfahrens Schutz zu gewähren und anzuerkennen, dass ein wichtiger Bestandteil der Traumabewältigung und -bearbeitung die Zusammenführung mit der eigenen Familie ist und dass diese im Rahmen der gesetzlichen Grundlagen zu ermöglichen ist“. Zudem räumte der Bundestag ein, dass der Völkermord an den Êzîd*innen noch immer allgegenwärtig und eine sichere Rückkehr aufgrund der volatilen Sicherheitslage kaum möglich sei.

Dieser schlichte Parlamentsbeschluss hat zwar keinerlei rechtlich bindende Wirkung, weshalb bei einem Zuwiderhandeln der Bundesregierung keine juristischen Konsequenzen zu erwarten sind. Dennoch ist er politisch von nicht unerheblicher Bedeutung und stellt demokratische Leitlinien auf, die eine Orientierung für andere Staatsgewalten bieten sollten.

Die aktuelle Lage im Irak

Mit seiner Einschätzung zur anhaltenden Gefährdung von Êzîd*innen im Irak ist der Bundestag zudem keinesfalls allein.

Die Mehrheit der schätzungsweise 200.000 Êzîd*innen, die dem Terror des „IS“ entkommen sind, leben mittlerweile seit fast zehn Jahren als Binnenvertriebene in sogenannten IDP (Internally Displaced People)-Camps in der Autonomen Region Kurdistan. Expert*innen des UNHCR haben bereits 2019 in ihrer Stellungnahme ausdrücklich zu verstehen gegeben, dass diese Camps keine Fluchtalternative darstellen können. Die Grundversorgung der Menschen ist nicht sichergestellt und sie leben in Zelten unter Bedingungen, die unterhalb eines menschenwürdigen Existenzminimums liegen. Es gibt keine adäquate gesundheitliche Versorgung oder psychische Betreuung, sie leben bis heute in Zelten. Die Suizidrate ist besonders bei êzîdischen Frauen wegen ihrer traumatischen Erfahrungen und mangelnder psychotherapeutischer Behandlung groß. Die Êzid*innen halten ihre Religion in den Camps geheim und leben weiterhin unter ständiger Angst.

Vielen Menschen, die nun abgeschoben werden, wird nichts anderes übrigbleiben, als auch in einem dieser Camps unterzukommen. Bis heute sind êzîdische Dörfer zerstört und vermint. Von einem Wiederaufbau der Heimatregion seitens der irakischen Regierung kann bisher nicht die Rede sein.

Der „IS“ ist zudem in den letzten Jahren wieder stärker geworden und greift mit einer Vielzahl von Anschlägen vor allem kurdische Gebiete an. Zwar hat die Terrororganisation die Kontrolle über einige Gebiete im Irak verloren, jedoch warnen Expert*innen von Rekrutierungen im Untergrund. Es wird einvernehmlich davon ausgegangen, dass der Islamische Staat noch nicht besiegt ist und reale Gefahren von ihm ausgehen. Dies bestätigen nicht zuletzt die Sicherheitswarnungen für den Irak veröffentlicht durch das Auswärtige Amt. Als besonders gefährlich stuft das Auswärtige Amt auch die Ninewa-Provinz ein, die Heimat der Êzîd*innen. Es wird von nicht notwendigen Reisen dringend abgeraten und auf schwere Anschläge und Entführungen mit terroristischem Hintergrund hingewiesen. Das Auswärtige Amt bestätigt ausdrücklich eine volatile Sicherheitslage. 

Auch der Sicherheitsrat der UN hält im Frühjahr 2023 fest, dass der „IS” weiterhin eine ernsthafte Bedrohung für internationalen Frieden und Sicherheit darstellt und belegt neue Rekrutierungsmöglichkeiten,  Zugang zu verschiedenen Waffensystemen und die Zusammenarbeit verschiedener islamistischer Vereinigungen zu diesem Zweck. Weiterhin bestätigt der Sicherheitsrat, dass von IS-Mitgliedern und ihren Familienangehörigen eine ernsthafte Bedrohung in Geflüchtetenlagern und Dörfern im Irak und Syrien ausgeht, da dort unter anderem  Kinder ihrer Indoktrination ausgesetzt sind. Expert*innen sprechen von einer neuen Generation von Jihadkämpfern.

Die anhaltende Bedrohung durch den „IS“ ist besonders fatal für das Schicksal einer Minderheit, die weiterhin deren Zielscheibe bleibt. In einer Fallstudie des Yale Genocide Studies Progams wurde nach Betrachtung verschiedener Faktoren festgestellt, dass weiterhin ein hohes Verfolgungsrisiko und die Gefahr eines weiteren Genozids an den Êzîd*innen bestehen. 

Auf Schutz durch den irakischen Staat können Êzîd*innen dabei nicht hoffen. Im Irak sind Falschbehauptungen über Êzîd*innen weit verbreitet. Es wird auf diesen Grundlagen landesweit von Hetzpredigern immer wieder zu Gewalt gegen die Gemeinschaft aufgerufen. 2014 wurden so auch Benachbarte und Bekannte zu Täter*innen, unterstützten die Jihadisten oder missbrauchten êzidische Frauen und Kinder selbst. 

Auch vor dem Genozid wurde der Minderheit der Zugang zu Grund- und Menschenrechten verwehrt. Êzîd*innen bleibt nach der Zerstörung ihrer Heimatregion keine Option im Irak, die ihnen Sicherheit und Schutz gewährleistet. Bestärkt wird dieser Eindruck auch durch die fehlende juristische Aufarbeitung des Genozids. Bis heute werden „IS“-Täter*innen im Irak, wenn es überhaupt zu Prozessen kommt, ausschließlich auf der Grundlage von Terrorunterstützung verfolgt. Auch darüber war sich zuletzt auch der Bundestag im Klaren. 

So gehen die Gefahren nicht nur mit dem Erstarken des „IS“ einher, sondern allgemein mit der Stellung der Minderheit in allen Teilen des Landes. Der Irak ist und bleibt unsicheres und schutzloses Terrain für Êzid*innen. Zudem wird die kurdische Region in Nord-Ost-Syrien (auch Rojava) unter anderem durch die Luftwaffe des NATO-Mitglieds Türkei in Zusammenarbeit mit islamistischen Gruppierungen völkerrechtswidrig angegriffen. Dieses Gebiet grenzt unmittelbar an der Heimatregion der Êzîd*innen im Irak. Ein Krieg, der keine Beachtung findet. 

Es ist alarmierend, dass Êzid*innen trotz anhaltender Verfolgung und der besorgniserregenden Situation im Irak keinen Schutzstatus bekommen und abgeschoben werden. Es drängt sich daher auch rechtlich die Frage auf, unter welchen Einschätzungen und Informationen deutsche Behörden und Gerichte eine Rückkehr für möglich halten.  

Zur rechtlichen Grundlage der Abschiebungen

Grundsätzlich kann ein Schutzstatus aus dem Asylgrundrecht, dem Flüchtlingsschutz, einem subsidiären Schutz oder einem Abschiebungsverbot folgen. Ist keine dieser Schutzoptionen einschlägig, können Personen abgeschoben werden.

Vorliegend kommen als Grundlage für einen Schutzstatus zunächst die Regelungen über den internationalen Flüchtlingsschutz nach §§ 3 ff. AsylG in Betracht. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Êzîd*innen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird. Nach § 3 AsylG gilt grundsätzlich jeder als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, der sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner sog. „Rasse“, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Herkunftslandes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Allerdings wird von deutschen Gerichten und Behörden eine sog. Gruppenverfolgung der Glaubensgemeinschaft der Êzîd*innen nicht länger angenommen, seitdem der „IS” 2017 militärisch besiegt wurde und nicht mehr die Gebietshoheit über die Heimatregion der Êzîd*innen besitzt. Bei der Prüfung einer Verfolgung nach § 3 AsylG wird nicht auf das gesamte Staatsgebiet, sondern nur auf die Herkunftsregion abgestellt. Wenn sich die Möglichkeit der Verfolgung in der Herkunftsregion aufdrängt, verweisen Gerichte auf die Möglichkeit der Rückkehr in andere Gebiete, in welchen die Verfolgung als unbeachtlich eingestuft wird. In den meisten Regionen des Irak nehmen deutsche Gerichte und Behörden ohnehin keine sog. Gruppenverfolgung der Glaubensgemeinschaft der Êzîd*innen durch den „IS” an. So scheitert regelmäßig die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für Êzîd*innen.

Wenn damit kein Flüchtlingsschutz in Frage kommt, könnte dennoch subsidiärer Schutz nach § 4 AsylG gewährt werden. Dafür muss den Betroffenen in ihrem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden drohen. Allerdings nehmen dies die deutschen Behörden bei einer Rückkehr von Êzîd*innen in den Irak regelmäßig nicht an. Ebenfalls nehmen deutsche Gerichte und Behörden für die Gemeinschaft der Êzîd*innen keine drohende unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung bei der Rückkehr in den Irak an, welche einen Abschiebungsstopp nach § 60 V AufenthaltsG nach sich ziehen würde. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 VII AufenthaltsG aufgrund einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit wird bei der Rückkehr von Êzîd*innen, selbst für Familien, nicht angewandt. Damit werden auch die klassischen Abschiebungsverbote nicht angewendet.

Die Abschiebung von Êzîd*innen in den Irak wird also von deutschen Behörden und Gerichten entgegen der bedrohlichen Lage vor Ort als legitim erachtet. Diese Praxis steht in schärfstem Widerspruch zu dem Beschluss des Bundestags und Einschätzungen von Nichtregierungsorganisationen.

Als letzte Möglichkeit könnten die obersten Landesbehörden gem. § 60a AufenthaltsG aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für bis zu drei Monate ausgesetzt wird. Dass die Landesregierungen einen Abschiebestopp nach § 60a AufenthaltsG entscheiden, wäre nach dem Bundestagsbeschluss und angesichts der aktuellen Lage für Êzîd*innen im Irak, ein konsequenter Schritt.

Allerdings scheint es, als sei auch den Bundesländern der (Menschenrechts-)Schutz einer marginalisierten Gruppe wie den Êzîd*innen gleichgültig. Das Beispiel der Êzîd*innen zeigt somit, dass unklare, von der subjektiven Einschätzung der Behörden und ihrer Erkenntnismittel abhängige aufenthaltsrechtliche Regelungen dazu führen können, dass Bleibeentscheidungen auf dem Rücken der Betroffenen politisiert werden.

Abschließende Stellungnahme

Angesichts der Lage für die Êzîd*innen im Irak müssen die Behörden und Verwaltungsgerichte den Beschluss des Bundestages ernst nehmen, Familienzusammenführungen ermöglichen und Abschiebungen von Êzîd*innen stoppen. Wenn dennoch kein Schutz durch diese Stellen gewährleistet wird, müssen sich Landesregierungen klar zum Schutz von Menschenrechten und -leben positionieren und ein Abschiebungsverbot beschließen. Das krasse Verkennen der Lage vor Ort seitens der deutschen Behörden setzt abgeschobene Êzîd*innen im Irak großen Gefahren aus. Die Zahl der Abschiebebescheide nimmt weiter zu. Dem Beschluss des Bundestags muss Folge geleistet werden, um weitere Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.

Zuletzt tat Niedersachsen einen ersten Schritt in die richtige Richtung und verhing einen dreimonatigen Abschiebestopp für êzîdische Frauen und Minderjährige. Eine Durchsetzung von einheitlichen Maßnahmen der Länder fand bei der Innenministerkonferenz in Potsdam in diesem Monat jedoch keinen Zuspruch. Es braucht endlich klare, einheitliche Bleiberechtsregelungen, die der Minderheit der Êzîd*innen einen tatsächlichen Schutz und einen sofortigen, unbegrenzten Abschiebestopp gewährleisten.

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