Vor etwas über einem Jahr begann die größte Impfaktion der Menschheitsgeschichte, um der seit hundert Jahren schwersten globalen Gesundheitskrise ein Ende zu bereiten. Seit August 2020 wurden über fünf Milliarden Menschen gegen Covid-19 geimpft. Die Entwicklung von Impfstoffen fand in Rekordzeit statt und ist ein großer Erfolg kollektiver weltweiter Anstrengung. Doch es gibt auch eine Kehrseite der Medaille: Die bisherigen Impfkampagnen sind ein Zeugnis globaler Ungerechtigkeit. Sie zeigen exemplarisch, dass wirtschaftliche Interessen einzelner Unternehmen über die Gesundheit und das Leben von MillionenMenschen gestellt werden. Dies geschieht im Widerspruch zum in zahlreichen Menschenrechtsverträgen festgeschriebenen Recht auf Gesundheit.
Gerechte Impfstoffverteilung bleibt aus – keine Überraschung
Diese Ungleichheit springt schon bei einem Blick auf die globalen Impfquoten ins Auge: Die Impfquote in Ländern mit hohem Pro Kopf Einkommen beträgt um die 80 %, während in Ländern mit niedrigen Pro Kopf Einkommen gerade einmal 14,4 % der Menschen geimpft sind.
Um genau diese Spaltung zu vermeiden, beschloss die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im September 2020 das COVAX Programm, was für Covid-19 Vaccines Global Access steht. Mit COVAX sollte Impfstoff weltweit fair und gerecht verteilt werden. Doch von Anfang an gab es ein großes Problem: Viele reiche Länder hatten bereits bilaterale Verträge mit Impfstoffherstellern geschlossen, die ihnen den Zugang zu den Impfstoffen sicherten, anstatt eine gemeinsame Bestellung und Verteilung der Impfstoffe über die WHO abzuwarten. Durch Exklusivverträge sicherten sich wohlhabende Länder, in denen rund 16 % der Weltbevölkerung leben, 70 % der Anfang 2021 verfügbaren Impfstoffmengen. Gleichzeitig fehlten COVAX rund 6,8 Milliarden Dollar, um die bis Jahresende 2021 angestrebten zwei Milliarden Dosen zu beschaffen.
Aus den Reihen der Länder, die zu befürchten hatten, bei der Impfstoffverteilung abgeschnitten zu werden, kam bereits im Oktober 2020 ein Vorschlag, um einer globalen Spaltung zu vermeiden: Indien und Südafrika brachten am 15. und 16. Oktober 2020 bei der Welthandelsorganisation (WTO) den Vorschlag ein, zeitweilig für alle Produkte, die zur Vorbeugung, Eindämmung und Behandlung von COVID-19 notwendig sind, den Patentschutz auszusetzen (Waiver). Über 100 Staaten, der Vorsitzende des Weltärztebundes, und wichtige UN-Akteure schlossen sich der Forderung an. Dennoch ist die erforderliche zwei Drittel Mehrheit in dem Gremium bis heute nicht zu Stande gekommen: Die deutsche Bundesregierung, die EU, USA und weitere Länder des globalen Nordens äußerten Bedenken gegen eine Aussetzung des Patentschutzes. Auch die Pharmaindustrie widerspricht regelmäßig dem Vorhaben mit aller Deutlichkeit, wie zuletzt der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa), unter dessen Mitgliedern unter anderem auch die Impfstoffhersteller – Biontech und AstraZeneca – sind, bei einer öffentlichen Anhörung im Bundestag zu dem Thema.
Aufhebung des Patentschutzes – eine sinnvolle Maßnahme?
Den Gegnern dieses Vorschlages nach mache ein Aufbau von weiteren Produktionsstandorten wenig Sinn. Es würde zu lange dauern und ohnehin an den erforderlichen Produktionsmitteln und Fachwissen fehlen. Auch wäre es ein fatales Signal an die Kapitalmärkte, dass Investment in Technologien zur Bekämpfung von Pandemien dem zusätzlichen Risiko des Verlusts der Patentrechte unterliegen könnten. Stattdessen solle eine Impfstoffversorgung des globalen Südens durch eine Ausweitung der Produktion der aktuellen Hersteller und Spenden an COVAX sichergestellt werden. Kurz: Eine Freigabe von Impfstoffpatenten sei wirkungslos und reine Symbolpolitik.
Die damit einhergehende Darstellung des globalen Südens als zu unterentwickelt für die Produktion von Impfstoff beruht auf rassistischen und neokolonialistischen Stereotypen über Länder des globalen Südens. Tatsächlich ist Indien der drittgrößte Hersteller von Medikamenten weltweit und mit China zusammen der wichtigste Produzent von pharmazeutischen Wirkstoffen. Den gleichen Ländern, denen anvertraut wird, den Großteil unserer Medikamente herzustellen, wird nicht zugetraut, einen qualitativ hochwertigen Impfstoff zu produzieren. Im Dezember 2021 veröffentlichten Expert*innen eine Liste mit mehr als 100 Unternehmen in Afrika, Asien und Lateinamerika, die Kapazitäten zur Herstellung von m- RNA Impfstoffen hätten und die qualitativen Standards erfüllen würden. Ein Technologie- und Wissenstransfer ist laut Ärzte ohne Grenzen zudem in nur fünf bis acht Monaten möglich.
Die Debatte zeigt deutlich, wie sich postkoloniale Machtverhältnisse in den aktuellen globalen Maßnahmen und Strategien fortsetzen: Der globale Norden bestimmt über den globalen Süden. Der globale Süden kann sich nicht mit einer eigenen, unabhängigen Produktion von der pandemischen Lage befreien. Stattdessen wird er in eine Lage versetzt, in der er abhängig vom guten Willen der Hersteller und den „rettenden“ Regierungen im globalen Norden ist. Wie die Lizenzvereinbarungen ausgestaltet sind und wie viel Impfstoff an COVAX gespendet wird, hängt einzig und allein von diesen bestimmenden Akteuren ab. Aber nur mit einer Freigabe der Impfstoffpatente und einer ausreichenden finanziellen Unterstützung für die Produktion, wären auch ärmere Länder in der Lage, selbstbestimmt und vorzeitig der Pandemie Einhalt zu gebieten.
Anspruch auf gerechte Impfverteilung aus den Menschenrechtsverträgen?
Vor diesem Hintergrund besteht für die Staaten des globalen Nordens letztlich sogar eine menschenrechtliche Pflicht, den Patentschutz für Impfstoffe gegen COVID-19 auszusetzen.
Art. 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) gewährleistet jedem Menschen das Recht auf Gesundheit. Dieses wird in Art. 12 UN-Sozialpakt konkretisiert. Danach sind Unterzeichnerstaaten verpflichtet, das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicherer Gesundheit anzuerkennen und diesbezüglich erforderliche Maßnahmen zu unternehmen, wie die Vorbeugung, Behandlung und Bekämpfung epidemischer Krankheiten. Dabei sind gem. Art. 2 des UN-Sozialpaktes i.V.m. Art. 55 und 56 der UN-Charta alle Kooperationsmöglichkeiten auszuschöpfen, die notwendig sind, um die volle Verwirklichung der im Pakt anerkannten Rechte zu erreichen. Deutschland und 170 weitere Staaten sind durch Ratifikation an den Pakt gebunden.
Zwar muss gleichermaßen berücksichtigt werden, dass eine Aussetzung des Patentschutzes ein erheblicher Eingriff in das materielle und geistige Eigentums der Hersteller wäre, welches in internationalen Menschenrechtsverträgen ebenfalls umfassend, unter anderem in Art. 17 und 27 AEMR sowie Art 15 Abs. 1 c) UN-Sozialpakt geschützt ist. Das WTO-Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) regelt darüber hinaus die Ausgestaltung des Schutzes geistiger Eigentumsrechte und deren Durchsetzbarkeit in den Mitgliedstaaten der WTO. Unternehmen in allen Vertragsstaaten wird grundsätzlich der Schutz ihres geistigen Eigentums gewährt. Dieses Übereinkommen wurde von 164 Ländern ratifiziert und gilt damit nahezu weltweit. Patente sind damit ein durch die internationale Rechtsordnung geschütztes Gut und können nicht ohne weiteres ausgesetzt werden.
Der gebotene Schutz des geistigen Eigentums und des Rechts auf Gesundheit stehen angesichts der Impfungleichheit im Widerspruch aber nur scheinbar zueinander im Widerspruch. Vielmehr wird der Schutz geistigen Eigentums bereits durch das TRIPS-Abkommen selbst dahin gehend eingeschränkt, dass es in Art. 31 allen Mitgliedstaaten erlaubt ist, Patentinhaber mit Zwangslizenzen zu verpflichten, wenn diese nicht in hinreichendem Umfang auf den betreffenden Markt tätig sind. Und Art. 15 UN-Sozialpakt schützt zwar das geistige Eigentum, schränkt den Schutz aber in Art. 15 Abs.1 b) eindeutig dahin gehend ein, dass jeder an den Errungenschaften des wissenschaftlichen Fortschritts und seinen Anwendungen teilhaben muss. Der Grundsatz „Eigentum verpflichtet“ besteht damit auch im internationalen Kontext.
Die WTO und die Weltorganisation für Geistiges Eigentum (WIPO) haben sich gemeinsam mit dem UN-Ausschuss für wirtschaftliche und soziale Rechte (WSK-Ausschuss), der die Einhaltung des UN-Sozialpaktes überwacht, und weiteren UN-Organisationen zur Bewertung dieses Spannungsverhältnisses bereits im Kontext der Bekämpfung von HIV geäußert. Sie kritisierten, dass Marktinteressen häufig über die gesundheitlichen Bedürfnisse der Weltbevölkerung gestellt werden. TRIPS dürfe gerade kein Hindernis zur Bekämpfung von Pandemien darstellen und müsse daher flexibel angewandt werden. Diese Kritik zeigte Wirkung: Auf verschiedenen Wegen wurde die Produktion von Medikamenten ermöglicht, sodass die meisten an HIV erkrankten Menschen in Ländern des globalen Süden Zugang zu bezahlbaren und geeigneten Behandlungsmöglichkeiten haben. Die Interventionen führten keineswegs zu einem Investitionsstopp in Forschung und Entwicklung neuer Behandlungsmethoden.
Angesichts von über sechs Millionen Todesfällen weltweit binnen zwei Jahren durch COVID-19 kann für die gegenwärtige Pandemie nichts anderes gelten als für die Bekämpfung von HIV: Die durch das Patentsystem geschützten Monopole müssen in ihrer Machtstellung begrenzt werden, so dass es nicht zu einer inakzeptablen Priorisierung von Profit einiger weniger zu Lasten vieler anderer kommt.
Der Schutz geistiger Eigentumsrechte kann und muss daher in der Pandemiesituation nachrangig gegenüber dem Recht auf Gesundheit sein. Der Schutz von Patenten kann unmöglich als Rechtfertigung für die Aufrechterhaltung der derzeitigen Situation dienen. Vielmehr ist eine Aussetzung dieses Schutzes zugunsten einer effektiveren Durchsetzung des Rechts auf Gesundheit längst überfällig. Alles andere stellt eine Verkennung der mit Eigentum einhergehenden Pflichten und der Verletzung der Menschenrechte auf Gesundheit und Teilhabe an technologischem Fortschritt dar.
Besser spät als nie
Auch die Ampelkoalition lehnt die Patentfreigabe von Corona-Impfstoffen wie bereits die Vorgängerregierung ab, obwohl ihr gegenwärtiger Gesundheitsminister Karl Lauterbach im September 2021 sich einem Appell zur Freigabe noch voll anschloss. Das Zögern der Bundesregierung und der EU verlängert die Pandemie in grausamer und vermeidbarer Art und Weise. Auch drängt sich die Frage auf, ob bei einer früheren Freigabe von Impfstoffpatenten die Bildung von gefährlichen Virusvarianten in genau den Ländern, die die Freigabe der Patente ursprünglich forderten, hätte verhindert werden können. Eine global gerechte Pandemiebekämpfung ist der einzige Weg aus der Pandemie heraus, nationalstaatliche und unsolidarische Strategien hingegen sind tickende Zeitbomben.
Der UN-Sozialpakt ist geltendes Recht in Deutschland und muss damit von der Politik berücksichtigt werden. Die Priorisierung der Profite von Wirtschaftsunternehmen über die Gesundheit der Weltbevölkerung ist nicht zu rechtfertigen. Die Verletzungen des Menschenrechts auf Gesundheit und des Rechts auf Teilhabe am technologischen Fortschritt müssen durch einen Waiver beendet werden. Die Zeit zu handeln ist jetzt.