Die Verabschiedung des texanischen „heartbeat“ Gesetzes Senate Bill 8 und das Bestreben der Ampel-Koalition, § 219a des Strafgesetzbuchs (StGB) abzuschaffen, zeigen unterschiedliche Entwicklungen in der Handhabung reproduktiver Rechte. Sowohl die USA als auch Deutschland haben internationale Abkommen ratifiziert, die umfassende reproduktive Rechte garantieren sollen. Diese sind ein zentrales, völkerrechtlich verankertes Element zur Gleichstellung der Geschlechter. Schwangerschaftsabbrüche zählen dabei zu einem der umstrittensten Themen. In Anbetracht dieser völkerrechtlich festgelegten Standards lässt sich allerdings feststellen, dass der rechtliche und tatsächliche Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen weder in Deutschland noch den USA ausreichend umgesetzt wird und somit bereits bestehende gesellschaftliche Exklusionsmechanismen verstärken.
Reproduktive Rechte im Völkerrecht
Im Völkerrecht sind reproduktive Rechte in einem umfassenden Katalog ausgearbeitet. Die UN-Frauenrechtskonvention (Art. 16 Ziff. 1 lit. e CEDAW) und die UN-Behindertenrechtskonvention (Art. 23 CRPD) garantieren das Recht, über Anzahl und Altersunterschied der Kinder zu entscheiden, einschließlich eines Rechts auf Zugang zu den notwendigen Informationen und Ressourcen, um dieses Recht wahrnehmen zu können. Regelungen, die Verhütungsmittel oder Schwangerschaftsabbrüche einschränken, stellen daher eine erhebliche rechtfertigungsbedürftige Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar. Beide Konventionen wurden sowohl von Deutschland als auch von den USA ratifiziert. Demzufolge gelten sie in Deutschland als Bundesgesetz.
Internationale Ausschüsse folgern außerdem aus Artikel 3, 6, 7 und 26 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (sogenannter Zivilpakt) und Artikel 12 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (sogenannter Sozialpakt) einen vollen und diskriminierungsfreien Zugang zu allen Methoden der Familienplanung einschließlich dem legalen und sicheren Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen. Dies bedeutet, dass gebärfähige Menschen das Selbstbestimmungsrecht über ihren eigenen Körper, ihre sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte haben. In Artikel 12 des Sozialpakts ist das Recht auf Gesundheit völkerrechtlich festgehalten: Jeder Mensch hat das Recht auf das jeweils höchste erreichbare Maß an körperlicher und geistiger Gesundheit. Der Sozialpakt wie auch der Zivilpakt wurden von Deutschland ratifiziert. Es ist folglich die Aufgabe der Bundesrepublik diesen völkerrechtlichen Pflichten nachzukommen.
Abtreibungen in Texas – praktisch unmöglich
Das texanische Senate Bill 8 Gesetz zeigt, auf welch wackligem Boden rechtstaatliche Errungenschaften gegenüber konservativen und rechten Bewegungen stehen. Es stellt ein nahezu gänzliches Abtreibungsverbot dar, verweigert Schwangeren das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper und gefährdet ihr Leben.
Seit dem Erlass von Senate Bill 8 gewinnen die bereits bestehenden Barrieren im Zugang zu reproduktiver Gesundheitsleistungen einschließlich Abtreibungen eine neue Bedeutung. Schon vor dem Erlass des Gesetzes musste für eine rechtmäßig vorgenommen Abtreibung 24 Stunden zuvor ein verpflichtendes Beratungsgespräch wahrgenommen werden. Doch diese Gespräche gehen weit über eine Beratung hinaus: es wird zusätzlich ein Ultraschall gemacht, der der schwangeren Person gezeigt und beschrieben werden muss. In der Konsequenz bedeutet diese Regelung, dass Schwangere zweimal zu einer Klinik fahren müssen. Das, obwohl es in Texas nur in 4% der Counties Abtreibungskliniken gibt. Für ein Drittel aller Abtreibungen mussten Schwangere 2017 mehr als 40 km fahren. Diese Voraussetzungen müssen nun unter einem erheblichen Zeitdruck erfüllt werden.
Abtreiben – nur, wenn du es dir leisten kannst
In
diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Intersektionen von race, Klasse
und Gender zu beachten: Für Schwangere mit weniger finanziellen Mitteln
bedeuteten diese Regelungen schon vor Senate Bill 8 eine erhebliche Belastung,
da sie neben den Kosten für die medizinische Behandlung, das Geld für zwei
Anfahrten aufbringen sowie die Einbußen von zwei oder mehr Urlaubstagen
verkraften müssen. Die mit Senate Bill 8 nun eingeführte Klausel, die es
möglich macht, Individuen zu verklagen, die bei einer Abtreibung durch
finanzielle Unterstützung helfen oder sie begünstigen („aid or abet“),
verschärft die Zugangslosigkeit von bereits vulnerablen Gruppen.
Wer eine Schwangerschaft zu spät bemerkt und sie beenden lassen möchte, dies in
Texas aber nun nicht mehr darf, muss dafür in einen der umliegenden Staaten
reisen. Arkansas und Oklahoma sehen allerdings ähnliche Beschränkungen vor. Wer es sich also
nicht leisten kann, (weit) zu reisen und sich zwei Tage von der Arbeit und von
familiären Verpflichtungen frei zu nehmen, wird in Texas nun dazu gezwungen,
ein Kind zu gebären. Dies bedeutet für die Kinder und für die Familien, in die
sie hineingeboren werden, eine Verschärfung der finanziellen Prekarität.
Schwangere People of Color machen dabei etwa 75 % der Patient*innen aus, die in Texas Abtreibungen vornehmen lassen wollen sind somit von den bereits bestehenden Restriktionen überproportional betroffen. Dies lässt sich auch für Senate Bill 8 schlussfolgern. Für BiPoC Schwangere bedeutet dies eine tatsächliche Gefahr für ihr Leben: ihre Müttersterblichkeitsrate ist etwa zwei bis dreimal so hoch wie für weiße Schwangere. Obwohl schwarze Gebärende nur etwa 11 % der Geburten ausmachen, beziffern sie mit 31 % überproportional viele Todesfälle. Gründe dafür wären oft zu verhindern, wenn für sie ein ausreichender Zugang zu Gesundheitsleistungen gewährleistet gewesen wäre. Verschärft wird diese Problematik auch durch systemischen Rassismus in der medizinischen Versorgung.
Dies zeigt, dass weitere Beschneidungen von Abtreibungsrechten insbesondere ohnehin schon marginalisierte Gruppen betreffen. Diese Beschneidung steht in eklatantem Widerspruch zu internationalen Abkommen, die Schwangeren das Recht zusprechen, sich für oder gegen ein Kind zu entscheiden und die notwenigen Ressourcen gewährleisten wollen, die dafür nötig sind. Besonders am Beispiel von Texas wird deutlich, dass der diskriminierungsfreie Zugang zu allen Methoden der Familienplanung, der im Zivil- und Sozialpakt festgehalten wurde, aktiv verhindert wird.
Abtreiben in Deutschland – grundsätzlich verboten
In Deutschland stellt sich wiederum eine andere gesetzliche Lage dar. Abtreibungen, wie auch das Informieren über die Durchführung, sind in Deutschland grundsätzlich gesetzlich verboten. Gemäß § 218 StGB ist ein Schwangerschaftsabbruch gesetzwidrig und strafbar, bleibt aber auf Grundlage der sogenannten Beratungsregelung unter bestimmten Voraussetzungen nach § 219 StGB straffrei. Dazu gehört ein sogenanntes Beratungsgespräch zur Schwangerschaftskonfliktberatung. Die Beratung kann anonym und muss ergebnisoffen durchgeführt werden. Nach dem Beratungstermin ist eine dreitägige Wartezeit vorgeschrieben, bevor man den Abbruch bei einer gynäkologischen Praxis durchführen lässt. Ist jemand ungewollt schwanger, gelten für eine straffreie Abtreibung in Deutschland besondere Zeitspannen. Die gesetzliche Frist beträgt 12 Wochen, § 218a Abs. 1 Nr. 3 StGB. Ausnahmen sind bei kriminologischer und medizinischer Indikation vorgesehen.
§ 219a StGB, der es Ärzt*innen verbietet, im Internet über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren, wird durch die Ampel-Koalition gestrichen werden. Dann dürften Ärzt*innen auf ihren Websites darüber informieren, dass sie Abtreibungen durchführen. Durch das Abschaffen von § 219a wird einzig das Grundrecht auf Informationsfreiheit gestärkt.
Lange Entfernungen als Hindernis der Erfüllung reproduktiver Rechte?
Dem Statistischen Bundesamt zufolge entschieden sich in Deutschland im Jahr 2020 rund 100.000 schwangere Menschen einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen. Etwa 81 % der Schwangeren ließen die Abtreibung in einer ärztlichen Praxis durchführen. Besonders in Regionen, die katholisch geprägt sind, müssen Schwangere jedoch häufiger weit fahren, bis sie eine*n Ärzt*in oder eine Klinik finden, in denen ihnen geholfen wird. In anderen Gegenden, sogar in liberaleren Großstädten, fehlt immer häufiger ärztlicher Nachwuchs, der Abtreibungen anbietet.
Bezüglich der Entfernung hat das Bundesverfassungsgericht bereits im Jahr 1993 vorgegeben, dass sie „von der Frau nicht die Abwesenheit über einen Tag hinaus“ verlangen dürfe. In der Theorie könnte dies gewährleistet sein, in der Praxis wird es jedoch eng. In keinem Bundesland ist die Situation so dramatisch wie in Bayern. Teilweise gibt es hier ganze Regierungsbezirke, in denen es keine Ärzt*innen mehr gibt, die noch Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Dies führt dazu, dass Schwangere weite Reisen auf sich nehmen müssen und dass es zusätzlich zu Verzögerungen der Behandlung kommt.
Fast zwei Drittel der 11.000 bis 12.000 Abbrüche, so hat das Münchner Gesundheitsreferat 2020 erhoben, werden in München durchgeführt. In Augsburg, der drittgrößten Stadt Bayerns, gibt es für Schwangere überhaupt keine entsprechenden Anlaufstellen.
Reproduktive Gerechtigkeit jetzt!
Dass das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen eine tödliche Gefahr für Schwangere bedeutet, zeigt ein kurzer Blick in die Geschichte und in Länder, in denen zurzeit keinerlei legale Zugänge bestehen. Die Gesetze in Texas und Deutschland besagen bis heute: Wenn du schwanger bist, solltest du die Schwangerschaft austragen. Dass dies eine Beschneidung des Selbstbestimmungsrechts, ein Eingriff in die Privatsphäre und des Rechts auf Gesundheit ist, scheint dabei keine Rolle zu spielen. Das zeigt deutlich, in welchem Ausmaß feminisierte Körper struktureller Diskriminierung ausgesetzt sind. Der UN-Frauenrechtsausschuss befand zuletzt 2017, dass weder die dreitägige Bedenkzeit zwischen Beratung und Eingriff in Deutschland noch die verpflichtende Beratung in Texas dem Recht auf Zugang zu sicheren und diskriminierungsfreien Schwangerschaftsabbrüchen entsprechen. Insbesondere, da in Deutschland das Ziel der Beratung der „Schutz des ungeborenen Lebens“ und die Ermutigung zur Austragung der Schwangerschaft ist. Das abstrakte ungeborene Leben wird in der rechtlichen Handhabung so weiterhin gegen das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren gestellt.
Reproduktive Rechte sind als international anerkannte Menschenrechte ein bedeutender Bestandteil für die Gleichstellung der Geschlechter. Obwohl die USA und Deutschland die wesentlichen internationalen Abkommen ratifiziert haben, verstoßen sie gravierend dagegen. Die rechtliche Austragungspflicht in Deutschland und das fragile Abtreibungsrecht in den USA reichen nicht aus, um eine reelle, rechtliche und staatsbürgerliche Gleichstellung zu bewirken. Die Lage in Texas zeigt deutlich: Davon sind insbesondere Frauen mit wenig Einkommen und nicht-weiße Frauen betroffen. Darauf weist seit 1994 das intersektionale, aktivistisch-theoretische Konzept der Reproduktiven Gerechtigkeit hin. Deshalb reicht demnach eine ‚einfache‘ Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen nicht aus, vielmehr bedarf es einen Rahmen, der reproduktive Rechte und soziale Gerechtigkeit zusammendenkt, um es zu ermöglichen, sich für oder gegen ein Kind entscheiden zu können. Das Recht auf einen sicheren und würdevollen Zugang zur eigenen Reproduktionsfähigkeit wird so als fundamentales Menschenrecht in Kombination mit sozialer Gerechtigkeit verstanden.
Für Deutschland gibt es dazu wenig verlässliche Daten und Studien. Das muss sich dringend ändern! Insgesamt muss das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit eine größere Beachtung im US-amerikanischen, mehr noch im deutschen, politischen Kontext finden.