Interview mit Dr. Doris Liebscher – Teil I

In unserer neuen Interviewreihe stellen wir interessante juristische Persönlichkeiten vor, die zu grund- und menschenrechtlichen Themen arbeiten. Wir freuen uns sehr, Dr. Doris Liebscher, die unserem Anliegen als ehemalige Mitarbeiterin der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte besonders verbunden ist, als erste Interviewpartnerin gewonnen zu haben.

Im ersten Teil des Interviews reden wir mit ihr unter anderem über ihren juristischen Werdegang, die Bedeutung von kritischer Rechtswissenschaft sowie ihre Dissertation zu Recht und Rassismus. Im zweiten Teil geht es schwerpunktmäßig um ihre Arbeit als Ombudsfrau für das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz gehen. Das Interview führten Soraia Da Costa Batista und Louisa Hattendorff.

Vielen Dank, dass du dir die Zeit für das Interview genommen hast. Zu Beginn möchten wir wissen: Warum bist du Juristin geworden? Was interessiert dich an diesem Beruf und diesem Feld? Warum bist du nicht in einen klassischen juristischen Beruf – wie Staatsanwältin, Richterin oder Anwältin – gegangen? 

Ich komme aus einer ostdeutschen Familie ohne universitären Hintergrund. Als ich mein Studium begonnen habe, war die Wende erst einige Jahre her. Soziale Sicherheit hat in meiner Familie eine große Rolle gespielt, außerdem sollte ich in der kapitalistischen Welt „was werden“. Da ich gute Noten in der Schule hatte, kamen wir auf ein Jurastudium. 

Andererseits wollte ich für Gerechtigkeit sorgen. Dieser Traum ist aber schon im ersten Semester geplatzt. Ich war schnell desillusioniert. Ich fand mich als Person, deren Eltern nicht an der Universität waren, nicht zurecht. Ich wusste nicht, dass ich mich auf ein Stipendium bewerben kann und habe während des gesamten Studiums gearbeitet. Ich habe mich während des Studiums stark politisch engagiert. Ich hatte deshalb keine guten Noten. Außerdem war das Studium stark juristisch-dogmatisch geprägt. Die Juraprofessoren waren konservative, weiße Männer aus dem Westen. Für mich gab es keine Vorbilder, ich habe mich nicht wohlgefühlt. 

Auch deshalb war für mich schnell klar, dass ich nicht Richterin oder Staatsanwältin werde. Dass ich mich dem juristischen Beruf zugewandt habe, hatte dann mit feministischen Freundinnen zu tun, mit denen ich zum Beispiel zum Feministischen Juristinnentag gefahren bin. Das hat alles verändert. Ich habe gemerkt: Man kann kritisch auf Recht schauen und kritisch etwas mit Recht machen. 

Welche Rolle hat, neben der feministischen Perspektive, die antirassistische Perspektive für deinen Werdegang gespielt? 

Während meines Studiums war ich in antirassistischen Gruppen in Leipzig engagiert. Über die bundesweite Vernetzung „Kein Mensch ist illegal“ habe ich das Antidiskriminierungsbüro Köln kennengelernt. Die nordrhein-westfälischen Antidiskriminierungsbüros waren damals, beeinflusst von einer niederländischen Tradition, die ersten in Deutschland. Ich habe direkt gemerkt, dass ich diese Arbeit sinnvoll finde und, unter anderem mit Anne Kobes und Heike Fritzsche, das erste unabhängige Antidiskriminierungsbüro in Sachsen gegründet. 

Warum sind dir diese kritischen Perspektiven auf das Recht wichtig? 

Einerseits kritisieren feministische und antirassistische Ansätze und Perspektiven das Recht fundamental für die Herstellung, Legitimierung und Aufrechterhaltung von Ungleichheit. Andererseits arbeiten diese Ansätze mit dem Recht. Wer Gesellschaft verändern will, bewegt sich immer in diesem Dilemma. Diese Widersprüche auszuhalten, ist deshalb eine wichtige Voraussetzung, um emanzipatorisch Recht zu machen und um die Gesellschaft zu verstehen. 

Du hast selbst einige Jahre in der Humboldt Law Clinic für Grund- und Menschenrechte (HLCMR) gearbeitet. Welchen Beitrag können Law Clinics zur Ausbildung von Jurist*innen leisten?

Law Clinics verbinden in der – sonst sehr dogmatisch angelegten – juristischen Ausbildung Rechtswissenschaft und Praxis. Das ist wichtig, um zu sehen, dass Recht gesellschaftlich beeinflusst ist. Mit diesem Einfluss, mit Machtverhältnissen zwischen Individuum und Staat, Recht und Rechtsunterworfenen, müssen wir uns auseinandersetzen. Oder, wie Susanne Baer sagt: Wir müssen das Recht vom Unrecht her denken, von den Rändern her, nicht von der Norm. 

Was ist das Besondere an der HLCMR?

Wie Refugee Law Clinics auch, macht die HLCMR genau das: Sie beschäftigt sich mit einem rechtlichen Feld, in dem Marginalisierung eine Rolle spielt und in dem Recht die Funktion haben soll, Unrecht zu überwinden. In der HLCMR werden Ausschlüssen von Frauen, trans und inter Personen, rassifizierten und anderen marginalisierten Personen in den Fokus genommen. 

Im regulären Studium lernen Jurastudierende diese Perspektiven nicht kennen. Das ist ein großes Manko. Ein Beispiel: Eine Strafrichterin kann eine Person ins Gefängnis schicken, ohne sich je mit der Perspektive von Menschen beschäftigt zu haben, die eine Ersatzfreiheitsstrafe antreten müssen, weil sie ihre Strafe nicht bezahlen können. Wenn man diesen Perspektivwechsel nie eingeübt hat, kann man nicht verantwortungsvoll Recht sprechen. In Law Clinics lernt man das. 

Du hast eine Dissertation zum Thema Recht und Rassismus geschrieben, die 2021 bei Suhrkamp veröffentlicht wurde. Wie bist du dazu gekommen, zu diesem Thema eine Dissertation zu schreiben?

Ich bin durch meine Arbeit im Antidiskriminierungsbüro Sachsen zu dem Thema gekommen. Dort haben wir u.a. Fälle, bei denen es um rassistische Diskriminierung beim Einlass in Clubs geht, gerichtlich begleitet. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) sieht vor, dass die Diskriminierung aufgrund der „Rasse“ und der ethnischen Herkunft verhindert und beseitigt werden soll. Als wir versucht haben, dieses Recht anzuwenden, bin ich in Kommentarliteratur auf rassistische bzw. zu Rassismus einladende Definitionen des Begriffes „Rasse“ gestoßen. Teilweise habe ich auch gar nichts gefunden. Es tat sich eine Leerstelle in der rechtlichen Auseinandersetzung mit Rassismus auf – in der Theorie und vor Gerichten. 

Neben den Klagen haben wir auch Weiterbildungen zum AGG angeboten, unter anderem für die Leipziger Verwaltung. Dort haben wir oft gehört: Es gäbe „Menschenrassen“ oder rassische Unterschiede. Das würde ja sogar im Grundgesetz stehen. 

Das waren die Ausgangspunkte, um mir anzuschauen: Was bedeutet „Rasse“ eigentlich als rechtliche Kategorie? Wie kann man ein wirksames Antidiskriminierungsrecht gegen Rassismus schaffen?

Was ist das Plädoyer deiner Dissertation? 

Mein Plädoyer ist klar: Wir müssen uns mit Rassismus aus einer rechtlichen Perspektive beschäftigen. In Deutschland gibt es noch zu wenige Erkenntnisse zur Durchdringung des Rechts mit Blick auf rassistisches Wissen und rassistische Effekte, z.B. wenn vermeintlich „neutrales“ Recht angewandt wird. 

Wir müssen uns auch mit dem Dilemma der Differenz beschäftigen: Wie formulieren wir ein gutes Antidiskriminierungsrecht, das einerseits von Betroffenen angenommen und genutzt wird und andererseits von Richter*innen und Anwält*innen angewandt werden kann, ohne rassistisches Wissen zu reproduzieren oder Rassismus zu bagatellisieren? Wir müssen uns in diese Auseinandersetzung stürzen, den Streit suchen, Widersprüche aushalten und fehlerfreundlich sein. 

Dies war der erste Teil des Interviews mit Dr. Doris Liebscher. Hier geht es zum zweiten Teil, in dem es schwerpunktmäßig um ihre Arbeit als Ombudsfrau des Berliner Landesantidiskriminierungsgesetzes geht.

Interview mit Dr. Doris Liebscher - Teil II
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