Im ersten Teil des Interviews haben wir mit Dr. Doris Liebscher über ihren juristischen Werdegang gesprochen. Im zweiten Teil sprechen wir nun über ihre Arbeit als Ombudsfrau für das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG), das Beanstandungsverfahren in der Praxis und was es für einen (noch) effektiveren Diskriminierungsschutz bräuchte. Das Interview führten Soraia Da Costa Batista und Louisa Hattendorff.
Du bist Ombudsfrau für das Berliner LADG, das 2020 in Kraft getreten ist. Was regelt das LADG?
Das LADG ist ähnlich wie das AGG, jedoch gilt es für öffentlich-rechtliches Handeln des Landes Berlin. Es regelt das Verbot von unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung sowie von Belästigung. Diskriminierungsgründe können zum Beispiel das Geschlecht, Behinderung oder rassistische und antisemitische Zuschreiben sein, aber auch die Sprache oder der soziale Status.
Das bedeutet: Alle Behörden des Landes Berlins wie die Polizei, Schulen, auch Einrichtungen wie Theater und Museen des Landes, mittelbar auch landeseigene Wohnungsbaugesellschaften oder Krankenhäuser mit Beteiligungen des Landes Berlin, müssen diese Diskriminierungsverbote beachten. Wenn Sie es nicht tun, haben Betroffenen beispielsweise Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche.
Warum braucht es ein solches Gesetz überhaupt?
Es braucht ein solches Gesetz, weil Diskriminierung auch in Behörden vorkommt, nicht nur in Beschäftigungsverhältnisse und im Waren- und Dienstleistungsverkehr, auf das das AGG anwendbar ist.
Außerdem ist die Rechtsdurchsetzung der abstrakt formulierten Diskriminierungsverbote im Grundgesetz und der Berliner Verfassung praktisch nur schwer durchzusetzen. Gerade Amtshaftungsansprüche und Feststellungsklagen wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG haben sehr hohe Hürden. Das LADG senkt diese Hürden und die Ombudsstelle ist ein zusätzliches Instrument zur niedrigschwelligen Rechtsdurchsetzung.
Stichwort Ombudsstelle: Was ist die Ombudsstelle genau? Und was sind deine Aufgaben als Ombudsfrau?
Das LADG sieht die Einrichtung einer Ombudsstelle bei der Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung vor, in der ich nun arbeite. Unsere Aufgabe ist es, Betroffene von Diskriminierung durch Berliner Behörden bei der Durchsetzung ihrer Rechte aus dem LADG zu unterstützen. Wir beraten kostenlos und niedrigschwellig und wir versuchen zuvorderst, außergerichtlich eine Klärung herbeizuführen. Wir beraten auch über Klagemöglichkeiten, auch wenn wir selbst keine Klagen begleiten.
Auch wenn wir vor allem Einzelfallbeschwerden bearbeiten, zielen wir langfristig darauf, institutionelle Diskriminierung abzuschaffen. Nach anderthalb Jahren Arbeit merken wir, wo es Häufungen gibt und wo eine bestimmte Verwaltungspraxis, Regelung oder ein Formular zu Diskriminierung führt. Unser Ziel ist es, diese Praxis zu verändern, sodass weniger Menschen diskriminiert werden – und wir weniger Beschwerden bekommen.
In welchen Bereichen bewegen sich die Beschwerden bisher schwerpunktmäßig? Kannst du Beispiele nennen?
Die Beschwerden kommen in erster Linie von Bürger*innen, also Einzelpersonen. Es kommt aber auch vor, dass Organisationen und Interessenvertretungen von besonders vulnerablen Gruppen – z.B. Amaro Foro oder der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma –, die Beschwerden an uns weiterleiten.
Hinsichtlich der Diskriminierungsgründe aus § 2 LADG erreichen uns die meisten Beschwerden im Bereich von rassistischer Diskriminierung und Behinderung. Aber es gibt auch viele Beschwerden aufgrund von allen anderen Diskriminierungsgründen, wie Diskriminierung von trans Personen oder aufgrund des sozialen Status. Aktuell spielt auch das Lebensalter eine große Rolle. Durch die Pandemie haben viele Dienstleistungsanbieter, auch die Einrichtungen des Landes Berlin, auf Online-Ticketing umgestellt. Das diskriminiert ältere Menschen.
Viele der Beschwerden richten sich gegen die Polizei, aber auch gegen andere Ämter, wie Bürger- oder Standesämter, sowie Schulen und Hochschulen. In Bezug auf die BVG erreichen uns Beschwerden zu diskriminierenden Ticketkontrollen. Man kann sagen: Diskriminierung kommt überall vor, insbesondere bei behördlichem Handeln im Außenkontakt.
Das LADG sieht als rechtliches Instrument ein Beanstandungsverfahren vor, bei dem die Ombudsstelle diskriminierende Vorgänge bei der zuständigen Behörde beanstandet. Wie funktioniert das Verfahren in der Praxis?
Wenn ein Verstoß gegen das LADG im Raum steht, bitten wir die Behörde, der die Diskriminierung vorgeworfen wird, im ersten Schritt den Sachverhalt aufzuklären und eine Stellungnahme abzugeben. Wir können Akteneinsicht beantragen und Handlungsempfehlungen aussprechen. Wir versuchen also, zu schlichten und die Betroffenen dabei zu unterstützen, dass zum Beispiel ein diskriminierender Bußgeldbescheid zurückgenommen wird, die Behörde sich entschuldigt oder dass Formulare geändert werden. Erst wenn diesem Begehren nicht nachgekommen wird, folgt eine Beanstandung als zweiter Schritt.
Wie reagieren Behörden auf dieses Verfahren?
Allgemein funktioniert das Verfahren gut. Die Behörden nehmen uns sehr ernst, da wir selbst in einer quasi-behördlichen Stellung sind und in die Abläufe eingespeist sind, indem wir um Stellungnahmen bitten und Fristen setzen.
Abgesehen davon ist es natürlich nie schön, den Vorwurf der Diskriminierung zu bekommen. Wir formulieren unsere Beschwerden deshalb höflich und versuchen, viel zu erklären und mitzunehmen. Wir erhalten sehr sachliche, empathische Reaktionen, stoßen aber auch auf absolute Abwehr. Manche sagen sogar: „Bei uns wird nicht diskriminiert, weil Diskriminierung ist gegen das Gesetz.“
Wo siehst du Stärken des LADG?
In einigen Punkten hat das LADG von den Leerstellen des AGG gelernt. Die schönsten Diskriminierungsverbote nützen nichts, wenn sie an der Rechtsdurchsetzung scheitern. Deshalb sind die Fristen des LADG länger und es sieht ein Verbandsklagerecht vor, sodass anerkennte Antidiskriminierungsverbände für die Betroffenen klagen können. Auch die Einrichtung der Ombudsstelle ist eine solche Stärke.
Die größte Stärke des Gesetzes ist aber, dass es das Gesetz überhaupt gibt. Die Signalwirkung, dass Diskriminierung existiert und dass wir das ernst nehmen, ist in die Berliner Behörden und die Gesellschaft hinein ungemein groß. Das Wichtigste ist es, über Diskriminierung in Gespräch zu kommen und das bewirkt das Gesetz.
Möglicherweise hat auch die unsachliche Kampagne gegen das LADG dazu beigetragen, dass es so bekannt ist. Das Gesetz wurde aber auch in einem politischen Fenster in 2020 erlassen, in dem das Thema Diskriminierung besonders präsent war. Die „Black Lives Matter“-Bewegung hat eine Debatte über Rassismus in Deutschland angestoßen, die es so zuvor nicht gab. Außerdem füllt die unheimlich breite und wichtige Beratungslandschaft in Berlin, also Antidiskriminierungsbüros und zivilgesellschaftliche Organisationen, das Gesetz mit Leben. Wie wir das Gesetz am besten in der Praxis anwenden können, lernen wir gerade noch.
Wo siehst du Schwächen oder Bedarf zur Nachsteuerung?
Eine Schwäche ist es, dass es das LADG nur in Berlin gibt. Wir brauchen Antidiskriminierungsgesetze in allen Bundesländern und im Bund. So erreichen uns viele Beschwerden gegen die Bundespolizei, das Jobcenter oder die Bundesarbeitsagentur – dagegen können wir nichts machen. Wir brauchen Diskriminierungsschutz in der Breite.
Mit Blick auf das Gesetz könnte man bei den Diskriminierungsgründen nachsteuern. Nationalität oder Staatsangehörigkeit könnten als Diskriminierungsgrund aufgenommen werden. Der soziale Status ist derzeit eine Auffangkategorie für viele Sachen, die explizit genannt werden könnten. Wir haben viele Beschwerden von alleinerziehenden Menschen, meistens Frauen. Es ist aber unklar, ob der Familienstatus in diese Kategorie fällt. Hier brauchen wir eine gesetzgeberische Klarstellung.
Für die Ombudsstelle würde ich mir mehr Rechte wünschen. Im neuen Koalitionsvertrag ist ein Initiativrecht vorgesehen, dass uns die Kompetenz geben soll, konkrete Vorschläge zu machen wie die Änderung einer Verwaltungsvorschrift oder eine gesetzgeberische Initiative auf den Weg zu bringen. Auch im Gerichtsverfahren sollten Gerichte unsere rechtliche Auffassung zumindest zur Kenntnis nehmen müssen.
Woran liegt es, dass es noch keine Klagen auf der Grundlage des LADG?
Diese Frage wird uns oft gestellt. Zum einen puffert die Ombudsstelle ab, weil wir vieles außergerichtlich klären können. Das ist gut.
Zum anderen hängt das mit den Klagemöglichkeiten im LADG zusammen. Nach herrschender Auffassung gehen die Klagen zum Landgericht, wo man einen gewissen Streitwert und einen Anwalt braucht. Das Prozesskostenrisiko ist damit hoch. Auch die Antidiskriminierungsverbände, die von dem Verbandsklagerecht Gebrauch machen können, stellen sich die Frage nach dem Prozesskostenrisiko. Deshalb brauchen wir Rechtshilfefonds.
Letztlich stellen sich Betroffene und Verbände die Frage: Wer macht die erste Klage? Eine solche Klage will man gewinnen. Deshalb wird viel abgewogen.
Ich rechne allerdings noch dieses Jahr mit ersten Entscheidungen zum LADG und hoffe, dass diese gut ausfallen. Das LADG ist ein neues Gesetz und ich merke jeden Tag in der Anwendung, dass es noch viel Bedarf zur Auslegung gibt. Mal schauen, wohin die Reise geht.
Zum Abschluss möchten wir dir noch zwei Fragen stellen. Erstens: Welches Buch – abgesehen von deiner Dissertation – müssen Jurist*innen lesen?
Ich empfehle zwei Bücher: Für Theorie und Methoden – mit praktischen Beispielen – empfehle ich von Susanne Baer „Rechtssoziologie: Eine Einführung in die interdisziplinäre Rechtsforschung“. Für einen Blick in die Praxis mit rechtspolitischen Forderungen von Ronen Steinke „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich: Die neue Klassenjustiz“.
Zweitens: Welches Motto, Mantra oder welche Botschaft möchtest du den Leser*innen des Blogs und insbesondere junge Jurist*innen mitgeben?
Ganz klar: Kritisch bleiben, Recht interdisziplinär betreiben und möglichst viel kollektiv denken, schreiben, arbeiten.
Vielen Dank für das Interview!