Die Konferenz „Blinde Flecken – Interdisziplinäre Tagung zum NSU-Komplex“ hat gezeigt, dass große Teile der Medien, Politik und Sicherheitsorgane auf dem rechten Auge blind waren und noch immer sind. Genau diese Institutionen sollen eigentlich die Verfassung und die Demokratie schützen. Angesichts der strukturellen Nichtbeachtung von Rassismus im Kontext des NSU stellen sich Fragen: Wer schützt hier eigentlich was? Und in was für einer Demokratie leben wir eigentlich?
Entsprechend lautete der Titel des ersten Panels “Staatsversagen? Gesellschaftliches Versagen?“. Moderiert von Doris Liebscher diskutierten Dr. Ulrich K. Preuß (Prof. em. Freie Universität Berlin, Hertie School of Governance), Fritz Burschel (NSU Watch, RLS Akademie für Politische Bildung), Heiner Busch (Redakteur von Bürgerrechte & Polizei (CILIP)), Heike Kleffner (Journalistin, Referentin der Linksfraktion im Bundestag für den NSU-Untersuchungsausschuss) und Dr. Derya Gür-Şeker (Universität Duisburg-Essen), ob und wenn ja um welche Form(en) des Versagens es sich tatsächlich handele und welche Konsequenzen daraus zu ziehen seien.
Das Scheitern der wehrhaften Demokratie?
Zu Beginn erläuterte Ulrich Preuß das Konzept der “wehrhaften Demokratie” im Rückgriff auf Karl Löwensteins Gedanken der “militant democracy”. Am Beispiel faschistischer Entwicklungen Europas stellte Löwenstein fest, dass liberale Demokratien nicht mehr vorrangig durch gewaltsame Putsche, Umstürze oder Revolutionen gefährdet seien, sondern vielmehr durch antidemokratische (militante) Kader und Eliten, die die Handlungsspielräume einer freiheitlichen Grundordnung missbrauchen, um im Rahmen der liberalen Demokratie einen Umsturz zu generieren.
Dieser Grundsatz ist auch im Grundgesetz in den Artikeln 18 und 21 Absatz 2 verankert und in der Geschichte der BRD im Rahmen der Parteienverbote von SRP, KPD und aktuell im NPD-Verbotsverfahren angewendet worden. Im Unterschied zur ursprünglichen Konzeption wende sich das Konzept jedoch dabei „zum Schutz des Staates“ gegen Individuen und kritische Öffentlichkeit, nicht gegen staatliche Akteure selbst.
Kann der NSU-Komplex als Scheitern der wehrhaften Demokratie zu verstehen sein? Preuß analysierte die von ihm benannte strukturelle Nähe zu rechten Ideologien der Sicherheitsorgane – also u.a. derjenigen Organe, die für den Verfassungsschutz im Sinne der wehrhaften Demokratie verantwortlich sind. Hierfür verwies er auf eine kürzlich veröffentlichte Studie des Bundesministerium des Innern, in der eine personelle Kontinuität von höher gestellten Mitarbeiter_innen mit NSDAP-Vergangenheit bis in die 60er Jahre hinein, festgestellt wurde. Diese Ergebnisse belegen laut Preuß die strukturelle Nähe nach rechts sowie institutionell verfestigten Rassismus, und damit auch die Existenzbedingungen des NSU-Komplexes.
Unfall NSU – falsche Interpretationen und die üblichen sicherheitspolitischen Konsequenzen
Heiner Busch kritisierte das Konzept der „wehrhaften Demokratie” grundsätzlich. Für ihn ist der Schutz der Demokratie vor allem Aufgabe der Zivilgesellschaft. Er zeigte auf, wie ein unkritischer Bezug auf die wehrhafte Demokratie und die frühe Festlegung auf die sogenannte “Unfallthese” sogar zu einer Komptenzerweiterung des Verfassungsschutzes führte. Nach der Unfallthese war die Nicht-Enttarnung des NSU Konsequenz einer Kette von “Unfällen” (wie bspw. die mangelnde Kooperation der Sicherheitsdienste) und nicht strukturellen Ursachen (wie institutionellem Rassismus) gewesen geschuldet.
Für Busch ist dringend notwendig anzuerkennen, dass rechte Gewalt weniger eine abstrakte Gefährdung für die Verfassung als vielmehr eine konkrete Gefahr für marginalisierte Minderheiten darstellt.
Der Inlandsgeheimdienst als Akteur im zivilgesellschaftlichen Diskurs
Fritz Burschel kritisierte in seinem Vortrag die Verstrickungen von Sicherheitsbehörden, Journalismus und Wissenschaft. Dieser “Verfassungsschutz-Wissenschaftsjournalismus” führe zu Zitierkartellen im Graubereich zwischen Geheimdienst, Bildung und Forschung, welche die Deutungshoheit über bestimmte Themen – wie beispielsweise die Extremismusdoktrin – erlangten.
Er problematisierte an Hand von einigen Karriere-Beispielen die häufig bestehende Gleichzeitigkeit einer Tätigkeit als Wissenschaftler_in oder Journalist_in und eines Anstellungsverhältnisses beim Verfassungsschutz, welches dabei auch noch häufig intransparent gehalten sei. Dies laufe dem Gedanken des Journalismus als 4. Gewalt und kontrollierender Instanz zuwider und sei auch mit wissenschaftsethischen Grundsätzen unvereinbar.
Chancen und Grenzen parlamentarischer Aufklärungsarbeit zum NSU-Komplex
Heike Kleffner zeigte Chancen und Grenzen der Aufarbeitung des NSU-Komplexes am Beispiel des ersten Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum NSU im Bundestag ein.
Sie würdigte dessen Arbeit, da er erstmals ein Narrativ zum NSU-Komplex geschaffen habe. Der Begriff des “NSU-Netzwerks” sei durchgesetzt worden und staatliches Handeln, insbesondere das der Sicherheitsbehörden, sei transparenter geworden.
Kleffner verwies jedoch auch auf Grenzen: Durch das selbstauferlegte Einstimmigkeitsgebot sei der Abschlussbericht sehr vorsichtig formuliert; institutioneller Rassismus sei deshalb zwar dargestellt, aber nicht als solcher benannt worden. Eine Leerstelle, die auch durch die Wissenschaft gefüllt werden könne und müsse.
Kleffner betonte auch die Wichtigkeit des öffentlichen Interesses für den Erfolg parlamentarischer Aufklärung. Sie kritisierte, dass der NSU-Komplex in der Öffentlichkeit bisher nur eine Fußnote darstelle und forderte eine kritische Auseinandersetzung der Gesellschaft mit der Normalität rechter Gefahr in Deutschland.
Mediale Praktiken im Kontext des NSU
Die Linguistin Derya Gür-Şeker warf auf Grundlage der u.a. von ihr durchgeführten sprachkritischen Analyse des NSU in den Medien, „Das Unwort erklärt die Untat“, einen kritischen Blick auf die Medienberichterstattung über den NSU vor dessen Bekanntwerden.
Sowohl in deutsch- als auch in türkischsprachigen Medien habe eine sehr unkritische Berichterstattung über die NSU-Morde stattgefunden. Durch die Benutzung von Begriffen wie “Döner-Morde” sei eine Distanz zu den Opfern geschaffen worden. Desweiteren seien die Opfer durch die Übernahme der durch die Sicherheitsbehörden verbreiteten rassistischen Deutungsmuster stigmatisiert und in die Nähe der Täter_innen gerückt worden. Mutmaßungen, die Opfer seien in die organisierte Kriminalität verwickelt, wurden nicht hinterfragt, sondern unkritisch reproduziert. Gür-Şeker spricht deshalb auch von einem Versagen der Medien.
Das Panel vermittelte überzeugend, dass der NSU-Komplex auch als Folge eines strukturellen Rassismus verstanden werden kann, der sich sowohl auf staatlicher Ebene, wie in Sicherheitsbehörden und Justiz zeigt, aber auch bei zivilgesellschaftlichen Akteur_innen, Medien und unkritischen Wissenschaftler_innen. Das Zurückführen des NSU auf ein reinstaatliches oder gesellschaftliches Versagen greift zu kurz und entspricht nicht der Komplexität der rassistischen Normalität in Deutschland.