Seit dem ersten August 2013 hat jedes Kind ab dem ersten Geburtstag einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. Ein bedarfsgerechtes Angebot suchen Eltern in vielen Regionen Deutschlands jedoch vergebens. So erging es auch drei Müttern aus Leipzig, die nach einem Jahr Elternzeit auf ihre Arbeitsplätze zurückkehren wollten. Obwohl sie recht bald nach der Geburt ihrer Kinder ihren Bedarf nach Kinderbetreuung angemeldet hatten, konnte die Stadt ihnen erst mehrere Monate nach den ersten Geburtstagen ihrer Kinder einen Betreuungsplatz anbieten. Die drei Frauen verklagten die Stadt auf Schadensersatz wegen Verdienstausfalls.
Die Gerichte hatten nun die Frage zu beantworten, ob es eine schuldhafte Amtspflichtverletzung darstellt, wenn eine Kommune den Rechtsanspruch eines Kindes auf einen Betreuungsplatz nicht erfüllen kann. Wer die Rechtsprechung durch die drei Instanzen verfolgt hat, konnte Zeug*in eines allmählichen Herantastens an eine angemessene Lösung finden. Ein Drama in zwei Versuchen und einem vorläufigen Schlussstrich:
Erster Versuch: Irgendwer wird es schon verbockt haben
Das Landgericht Leipzig gab den Klagen statt: Die Verpflichtung, ein bedarfsgerechtes Angebot an Kita-Plätzen zu schaffen, sei eine Amtspflicht. Diese Amtspflicht diene auch dem Schutz der betroffenen Eltern: Der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz solle ihnen dabei helfen, Erwerbstätigkeit und Familie zu vereinbaren. Er stehe nicht unter einem Kapazitätsvorbehalt. Die Stadt habe den Mangel an Plätzen auch verschuldet, was man ja schon daran erkennen könne, dass nicht genügend Plätze zur Verfügung stünden. Wenn dem so sei, müsse man vermuten, dass verwaltungsintern an irgendeiner Stelle ein Fehler gemacht worden sei.
Zweiter Versuch: Öffentliche Kinderbetreuung hat doch nichts mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu tun (obwohl alle davon reden)
Anders das OLG Dresden, das über die Berufung der Kommune zu entscheiden hatte. Zwar sah es ebenfalls eine Amtspflicht der Stadt Leipzig, genügend Betreuungsplätze zu schaffen. Aber, so das OLG, diese Pflicht bestehe nur zum Schutz der betroffenen Kinder. Denn nach den gesetzlichen Regelungen haben nur Kinder einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz, nicht aber ihre Eltern. Da Kinder keinen Verdienstausfall haben, wenn sie nicht in der Kita betreut werden können: kein Schadensersatzanspruch.
Vorläufiger Schlussstrich: Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 20.10.2016
Am 20. Oktober hat der Bundesgerichtshof im Revisionsverfahren entschieden. In der Begründung bekommt jede Instanz ihr Fett weg:
Entgegen der Auffassung des OLG bejaht der BGH eine Amtspflicht, die auch dem Schutz der Eltern dient. Was nicht verwundert, steht doch im Gesetz ausdrücklich, mit der Tagesbetreuung von Kindern solle (1) die Entwicklung des Kindes gefördert werden, (2) die Erziehung und Bildung in der Familie unterstützt und ergänzt werden und (aufgemerkt!) (3) den Eltern dabei geholfen werden, „Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser zu vereinbaren“ (§ 22 II SGB VIII). Auch in der politischen Diskussion war der Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung überwiegend damit begründet worden, ohne ein gut ausgebautes öffentliches Betreuungssystem seien Beruf und Familie in diesem Land kaum unter einen Hut zu bekommen.
Aber ob die Kommune die Kapazitätsengpässe auch verschuldet hat, ist nach dem Bundesgerichtshof nicht ganz so einfach zu begründen, wie es das Landgericht Leipzig unternommen hatte: Dass einfach Geld fehlte, lässt auch er nicht gelten. Dennoch muss die Stadt die Möglichkeit bekommen, sich zu entlasten: Vielleicht gab es ja Verzögerungen im Bauprozess, für die die Stadt nichts konnte. Oder der Bedarf hat sich kurzfristig in einer Weise erhöht, mit der die Stadt auch bei sorgfältiger Planung nicht rechnen musste. Ergebnis: Die Verfahren gehen noch einmal zurück an das OLG Dresden. Dort wird gründlicher zu prüfen sein, woran es lag, dass die versprochenen Betreuungsplätze nicht zur Verfügung standen.
Wie es weitergeht? Nichts Genaues weiß man nicht
Für die Klägerinnen ist also noch nichts entschieden. Das weitere Verfahren verspricht zudem, kompliziert zu werden, denn der Ausbau der Kindertagesbetreuung ist ein verschachtelter Prozess mit vielen Beteiligten und unendlichen Anlässen für Verzögerungen. Die praktischen Folgen des Urteils sind darum noch nicht abzusehen. Wohl aber bleibt eine politisch bedeutsame Drohkulisse bestehen: Die Lösung des OLG Dresden hätte die Kommunen massiv von politischem Druck entlastet, weil die Sorge vor Schadensersatzansprüchen insbesondere gut verdienender und klagefreudiger Eltern weggefallen wäre. Nun aber hat ein Gericht bestätigt, was eigentlich niemand bezweifeln konnte: Der Ausbau der Kindertagesbetreuung ist ein ernst gemeintes Angebot nicht nur an Kinder, sondern auch und vor allem an ihre Eltern – und wenn er nicht funktioniert, kann es für die Kommunen teuer werden.