Mensch, du hast Recht!

„Mensch, du hast Recht!“ – Unter diesem Motto fand am 19. und 20. April der Verbandstag des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Potsdam statt. Im Rahmen einer Jahreskampagne des Verbandes sollten die Durchsetzung, der Schutz und die Wahrung vor allem sozialer Grundrechte in den Fokus genommen werden. Und so diskutierten sich in Potsdam Mitglieder aus ganz Deutschland die Köpfe heiß.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband ist als einer von sechs Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege der Dachverband von über 10.000 eigenständigen Organisationen. Maßgeblich für die Kampagne “Mensch, du hast Recht!” war der 70. Jahrestag der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der am 10. Dezember 2018 gefeiert wird. Daneben waren die derzeitigen Reformen des Bundesteilhabegesetzes, der erstarkende Rechtspopulismus und Rassismus ausschlaggebende Faktoren für die Wahl des Themas Menschenrechte. Auf dem Verbandstag wurden vorrangig die Themen Wohnen, Gesundheit, Bildung, Selbstbestimmung, Teilhabe und Schutz diskutiert.

Durchsetzung von Menschenrechten

Die Durchsetzung von Menschenrechten spielte eine zentrale Rolle auf dem Verbandstag und wurde auch von Prof. Dr. Beate Rudolf, der Direktorin des Instituts für Menschenrechte in ihrem Vortrag am Donnerstag hervorgehoben. In fünf Schritten beschrieb sie den Prozess der Durchsetzung von Menschenrechten: Als Ausgangspunkt für die eigenständige Rechtsdurchsetzung müssen Menschenrechte demnach zunächst stärker ins Bewusstsein der Menschen gerückt werden. Dabei müsse deutlich werden, dass Menschenrechte nicht nur Wertungen enthalten, sondern rechtlich kodiert sind, sodass sie eingeklagt werden können. Doch dafür ist es erforderlich, dass Betroffene empowert werden und Unterstützung erfahren. Prof. Dr. Rudolf forderte deshalb die Einrichtung von außergerichtlichen Beschwerdestellen, um die Hürden für die Ausübung von Menschenrechten deutlich abzusenken. Darüber hinaus sollten Menschenrechtsverletzungen nicht als Problem anderer Länder thematisiert werden – vielmehr sollten gerade auch die in Deutschland stattfindenden Verletzungen so benannt werden. Als Beispiele für in Deutschland relevante Menschenrechtsthemen nannte sie unter anderem die Tatsache, dass trotz des vom Bundesverfassungsgericht anerkannten sozio-kulturellen Existenzminimums viele Menschen in Armut leben oder dass viele Menschen, insbesondere Frauen Gewalt erfahren ohne ausreichend geschützt zu werden. Zudem müssten Kinder als Rechtsträger ernst genommen werden sowie Menschen, die behindert werden, die Teilhabe an Bildung, Arbeit und dem sozialen und politischen Leben ermöglicht. Dabei thematisierte sie auch, dass die Rahmenbedingungen für ein aktives Engagement gegen Menschenrechtsverletzungen derzeit herausfordernd und von Angriffen auf Menschenrechte geprägt sind. Öffentliche Debatten wie die Inklusionsdebatte, welche offen die Frage stellt, wer in Schulen dazu gehören darf und wer nicht oder Hetze gegen Geflüchtete, denen das Menschsein und ihre Menschenrechte abgesprochen werden, verlangten, so Beate Rudolf, eine klare Positionierung und das solidarische Berufen auf Menschenrechte. Dafür sei Selbstreflexion und die eigene Kritikfähigkeit unabdingbar, um nicht die Glaubwürdigkeit zu verlieren. Auch Probleme und Missstände müssten sichtbar gemacht und thematisiert werden.

Das Recht auf Schutz vor Verfolgung – in Europa unerreichbar?

In einem Workshop am Donnerstag ging es um die Grenzsicherung der europäischen Außengrenzen im Mittelmeerraum. Geleitet wurde der Workshop von Kerstin Becker vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, während Harald Glöde von der Organisation borderline-europe über die Beschneidung von Menschenrechten berichtete. Grundsätzlich habe jede Person das Recht (Art. 2 II 1 GG iVm. Art. 3 EMRK), nicht in ein Land abgeschoben zu werden, in dem ihm Folter oder körperliche Misshandlung drohen, doch gerade im Mittelmeerraum sei das Gegenteil die Praxis. Aktuell verlagere Europa aktiv seine Außengrenzen nach Afrika, indem es von afrikanischen Staaten fordert, die Migration unter Kontrolle zu halten. Zu diesem Zweck kooperiere es mit fragwürdigen Regimen wie beispielsweise aus dem Niger, Tschad und Burkina Faso und unterstütze diese militärisch. Auch auf dem Mittelmeer selbst komme es zu Menschenrechtsverstößen: Die staatliche Seenotrettung habe sich sehr stark zurückgezogen. Statt Menschen vor dem Ertrinken zu retten, ereigneten sich Vorfälle, bei denen Boote solange blockiert wurden, bis beispielsweise die libysche Küstenwache das Boot erreiche. Aufgrund der mangelnden Seenotrettung, welche im Übrigen einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt, gewinne die zivile Seenotrettung zunehmend an Bedeutung. Zivile Seenotretter, die im Mittelmeer unterwegs sind werden jedoch zunehmend vom libyschen Grenzschutz unter Druck gesetzt und durch gerichtliche Verfahren als auch durch die Beschlagnahmung ihrer Boote verunsichert. Viele Geflüchtete werden durch den libyschen Grenzschutz zurück geschleppt und schließlich an der libyschen Küste in Gefängnisse gebracht, in denen – selbst laut dem Auswärtigen Amt – KZ-ähnliche Zustände herrschen. All dies weiß die deutsche Bundesregierung und toleriert es, schlimmer noch, sie unterstützt es. Die genannten Fakten, so Harald Glöde sind auch vielen Bürger_innen in Deutschland bekannt und es wird in den öffentlichen Medien thematisiert. Ein Aufschrei in Deutschland – unterbleibt. Es scheint eine allgemeine Ignoranz für Themen zu herrschen, die „weit genug weg“ sind. Doch das Thema ist nicht weit weg. Vielmehr geht um Menschenrechtsverletzungen, die der deutsche Staat begeht und gegen die aktiv angegangen werden sollte. Für die Teilnehmenden des Workshops blieb jedoch die Frage offen, was neben Aufklärung über die herrschenden Zustände konkret unternommen werden kann, um mit der erschreckenden Situation umzugehen. Hierzu hatte nur Prof. Dr. Prasad am Ende des Workshops einige konkrete Ideen, auf die später eingegangen werden soll.

Menschenrechte in der Psychiatrie

Ein weiterer Workshop thematisierte die Rechte psychisch erkrankter Menschen in den Pflegeeinrichtungen. Der Workshop wurde von der Assistenz der Geschäftsführung der DGSP e. V Patrick Nieswand moderiert. Vorträge hielten Guido Vollmann (Assistant Delegate UN-SPT) und Petra Rossmanith von Bundesnetzwerk unabhängiger Beschwerdestellen Psychiatrie. Ausgangspunkt für das Gespräch war die UN-Behindertenrechtskonvention, die von Deutschland ratifiziert wurde und seit dem 26.03.2009 geltendes Recht darstellt. Zudem steht Deutschland als Mitgliedstaat unter der Überwachung des UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Bei der Überprüfung im April 2015 stellte sich jedoch heraus, dass in Deutschland die Konventionsvorschriften insbesondere in den Bereichen ,,Zwangseinweisung” und ,,Zwangsmaßnahmen” nicht eingehalten werden. Der UN-Ausschuss empfand die Menschenrechtsverletzungen durch gängige Praktiken der Zwangsmedikation und der Fixierung als so gravierend, dass er sie als ,,Folter” einstufte. Die BRD trug dem Empfehlungsbericht Rechnung, indem sie ein Gesetz zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten vom 17. Juli 2017 erließ. Jedoch sei damit nicht genug getan, weil die Psychisch-Kranken-Gesetze, die in die Zuständigkeit der Länder fallen, auf Bundesebene nicht geändert werden können. Daher sei es dringend notwendig, dass einzelne Landesgesetze überprüft und verbessert werden. Hierbei sei besonders die Rolle der Fachverbände bedeutend, denn sie sind für die Vertretung und Artikulierung der Interessen von Patient_innen verantwortlich. Dazu sind zwei bemerkenswerte Stellungnahmen zu nennen: zum einen eine Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bayerischen Staatsregierung für ein Bayerisches PsychKHG und zum anderen eine gemeinsame Stellungnahme zum Home Treatment in Deutschland. Als zentrale Forderung wurde die Beseitigung noch bestehenden rechtlicher und faktischer Diskriminierungen psychisch erkrankter Menschen und die Umsetzung bzw. die praktische Einhaltung der UN-Behindertenrechtskonvention formuliert. 
Der Workshop hat anhand konkreter Beispiele gezeigt, dass die Wahrung der Grund- und Menschenrechte in Einzelfällen eine große Herausforderung darstellt. Problematisch sind schon erwähnte Zwangsmaßnahmen, bei denen die Grundrechte der Betroffenen miteinander und mit denen anderen Patient_innen kollidieren.

Menschenrechtslage inter*geschlechtlicher Menschen in Deutschland

Ein dritter Workshop, welcher am Freitag stattfand, fokussierte die Menschenrechtslage intergeschlechtlicher Menschen in Deutschland. Der Workshop wurde von Greta Schabram, Referentin im paritätischen Gesamtverband, geleitet. Während Lucie Veith, Inter-Aktivist*in und Peer-Berater*in, das Phänomen der Intergeschlechtlichkeit und die damit verbundenen gesellschaftlichen und rechtlichen Herausforderungen erklärte, legte Dr. Petra Follmar-Otto vom Deutschen Institut für Menschenrechte ihre Prognose zu angestrebten gesetzgeberischen Lösungen dar.

Die im Jahr 2013 vorgenommene Gesetzesänderung des Personenstandsrechts, nach der der rechtliche Geschlechtseintrag für ein Kind, das „weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht“ zugeordnet werden kann, offen zu lassen ist, konnte die menschenrechtliche Situation inter*geschlechtlicher Menschen in Deutschland nicht verbessern. Laut einer im Jahr 2016 durchgeführten Studie von Ulrike Klöppel sind die Zahlen der nicht medizinisch indizierten, geschlechtszuweisenden Operationen an Kindern in den letzten Jahren nicht zurückgegangen.

Die Vortragenden betonten, dass 2018 ein wichtiges Jahr für die rechtliche Anerkennung der Inter*geschlechtlichkeit sei, insbesondere handele es sich um den richtigen Zeitpunkt für ein ausdrückliches gesetzlich Verbot der nicht indizierten Operationen an inter*geschlechtlichen Kleinkindern. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung im Oktober 2017 die binäre Auslegung von personenstandsrechtlichen Regelungen für verfassungswidrig erklärt und dem Gesetzgeber bis Ende 2018 Zeit für die Verabschiedung eines neuen Gesetzes gegeben. Diese Verpflichtung des Gesetzgebers ist im Koalitionsvertrag 2018 verankert:

,,Wir respektieren geschlechtliche Vielfalt. Alle Menschen sollen unabhängig von ihrer sexuellen Identität frei und sicher leben können – mit gleichen Rechten und Pflichten. Homosexuellen- und Transfeindlichkeit verurteilen wir und wirken jeder Diskriminierung entgegen. Wir werden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hierzu
umsetzen. Wir werden gesetzlich klarstellen, dass geschlechtsangleichende medizinische Eingriffe an Kindern nur in unaufschiebbaren Fällen und zur Abwendung von Lebensgefahr zulässig sind.”

Frau Dr. Follmar-Otto skizierte ein menschenrechtliches ,,Worst-Case-Szenario” für die anstehende Neuregelung: Sollte sich der Gesetzgeber entscheiden, den gewünschten Geschlechtseintrag für inter*geschlechtliche Personen (ähnlich wie bei transgeschlechtlichen Menschen durch das Transsexuellengesetz) unter die Voraussetzung medizinischer und psychiatrischer Gutachten zu stellen, würde sich die Situation intergeschlechtlichen Menschen nicht wesentlich verbessern, da nach wie vor eine hohe Hürde bei der der personenstandsrechtlichen Geschlechtseintragung bestünde. 
Follmar-Otto empfahl in ihrem ,,Best-Case-Szenario” die Abschaffung der Geschlechtsregistrieriung für alle Kinder, bei der ein späteres, niedrigschwelliges Zuordnungs- und Änderungsverfahren unter Berücksichtigung des Persönlichkeitsrechts möglich bliebe. Darüber hinaus solle ein ausdrückliches Verbot von geschlechtszuweisenden Operationen an inter*geschlechtlichen Kleinkindern in die Rechtsordung aufgenommen werden. Sie hoffe darauf, dass der Gesetzgeber ein umfassendes Geschlechtervielfaltsgesetz mit Regelungen in vielen Rechtsbereichen einschließlich Diskriminierungsschutz und Gleichstellungsrecht für Inter*Personen verabschiede.

Ausblick

Der Verbandstag hat gezeigt, wie viele Menschenrechtsverletzungen es noch heute in allen sozialen Bereichen gibt. Er bot einen Einblick in die herausragende wichtige Arbeit, die bereits von vielen Organisationen und Vereinigungen geleistet wird, um die menschenrechtliche Lage vieler Personen zu verbessern. Prof. Dr. Nivedita Prasad zeigte in ihrem Vortrag am Ende des Verbandstages darüber hinaus Wege auf, wie sich jede*r für eine bessere Durchsetzung von Menschenrechten einsetzen kann. Demnach sei es zunächst wichtig, Missstände in die Sprache der Menschenrechte zu übersetzen und so gezielt Verletzungen anzuprangern. Es gibt viele internationale Verträge, in denen Menschenrechte festgehalten werden und die dabei Orientierung bieten, z.B. CEDAW, den Sozialpakt, den Zivilpakt, die UN-Kinderrechtskonvention etc. Wenn von einem Arbeitnehmenden Tätigkeiten gefordert würden, die diesen konkreten Rechten widersprechen, könne auch einmal ziviler Ungehorsam die ethisch richtige Reaktion darstellen. Man dürfe, ja sogar müsse diesen Forderungen unter Berufung auf die Menschenrechte widersprechen, denn nur so kann ihnen Gehör verschafft werden. Darüber hinaus sei, gerade auch für Jurist*innen unter uns, strategische Prozessführung eine wichtige Möglichkeit, Menschenrechtsverstöße aufzudecken und einer menschenrechtswidrigen Praxis zu widersprechen.

Die Menschenrechtsverträge machen aus Werten rechtlich kodierte einklagbare Rechte, auf die sich alle Menschen auch in Alltagssituationen berufen können und bei deren Durchsetzung Unterstützung und Solidarität mit den von Verletzungen Betroffenen notwendig ist.

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