Am 18.12.2015 nahm der Bundesrat Stellung zu einem Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Reform der psychiatrischen Unterbringung gemäß § 63 StGB. Nach dieser Vorschrift können Menschen, die eine Straftat begangen haben, aber schuldunfähig sind, unter bestimmten Voraussetzungen in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen werden. Die Meinungen zu dem Gesetzesentwurf gehen weit auseinander.
Die Abschaffungsvertreter_innen vom „Kartell gegen § 63 StGB“ auf der einen Seite, die Reformvertreter_innen wie Bayerns Justizminister Bausback auf der anderen. Pragmatischer Vermittler ist der Deutsche Richterbund, der die Reform begrüßt und dennoch aufzeigt, dass mit jedem Änderungsvorschlag neue terminologische Probleme auftreten. Doch die niedrigschwellige Auseinandersetzung des Bundesrates mit dem Entwurf deutet es an: Am Ende wird wieder nur ein Referentenentwurf durchgewinkt und die Richtenden wenden an, was sie vorfinden. Damit wird ein alter Schuh poliert, dessen Entsorgung längst überfällig ist.
Sonderrecht für Menschen mit Behinderungen
Wird in einem psychiatrischen Gutachten vor Gericht festgestellt, dass ein_e Täter_in vermindert oder nicht schuldfähig und obendrein gefährlich für die Gesellschaft ist, ordnet das Gericht die zwangsweise „Unterbringung“ in einer Psychiatrie an. Dabei handelt es sich um stationäre unfreiwillige Therapien mit teilweise zweifelhaften Heilmethoden und überlangen „Unterbringungszeiten“.
Wohl die meisten der „Untergebrachten“ gelten nach den Maßstäben der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) als Menschen mit Behinderungen und unterfallen dem Schutz dieser Konvention. Erst im April dieses Jahres befasste sich der UN-Ausschuss zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen mit dem 1. Staatenbericht Deutschlands. Der Ausschuss bewertete die Sonderbehandlung von Menschen mit Behinderungen vor Gericht sowie die ungleiche Vollzugsdauer von diagnostizierten und „gesunden“ Täter_innen im Ergebnis als Diskriminierung.
Obwohl die „Unterbringungen“ in den vergangenen 25 Jahren deutlich zugenommen haben, bleibt die Problematik in der Öffentlichkeit zumeist unbeachtet. Ein Umstand, der die Marginalisierung der Betroffenen im gesellschaftlichen Panorama untermauert und eine empathische Auseinandersetzung erschwert. Sichtbar wurden nur wenige Fälle, wie der des vielbeachteten Gustl Mollath, in denen die Gerichte einen überlangen Freiheitsentzug auf Grundlage fehlerhafter psychiatrischer Gutachten anordneten.
Die komplexe Unterscheidung zwischen Normalität und Sonderfall
Dass die psychiatrische Unterbringung nicht problematisiert wird, liegt an einer weit verbreiteten Wahrnehmung des Problems: Viele Menschen gehen davon aus, dass es sich bei den „Fehlern“ um einige Ausnahmefälle eines sonst funktionierenden Systems handelt. Hier stellt sich die entscheidende Frage: Wissen wir nun, dass das System schlecht ist und zwangsläufig Fehler produziert oder waren es Ausnahmen? Oder sind die Fälle, in denen die erzwungene Therapie funktioniert, die Gutachten und Urteile fehlerfrei sind, die Einzelfälle? Vielleicht ist die Frage aber auch falsch gestellt und müsste lauten: Haben wir möglicherweise ein System, das uns stets das Szenario eines extremen, unberechenbaren Sonderfalles von Täter_innen vor Augen hält, um drastische Maßnahmen zu rechtfertigen, die uns eigentlich unangebracht erscheinen müssten?
Das Foucaultsche Bild von einer Justiz aus mittelbar richtenden Psychiater_innen und dem Gericht, das nicht nur dogmatisch die Strafbarkeit feststellt, sondern gesellschaftliche Normalität definiert, drängt sich auf. Die „Untergebrachten“ werden durch ihre Sonderbehandlung nicht nur stigmatisiert, sondern bekommen ihre Zuweisung als zu „normalisierende“ Personen körperlich zu spüren.
Offiziell definiert – und damit legitimiert – wird die Normalität negativ durch die Krankheitsliste des International Code of Desease (ICD), die von den Psychiater_innen mit weitem Spielraum ausgelegt und in der Diagnose angewandt wird. Bei einem Blick auf die Akteur_innen, welche die Schuldunfähigkeit beurteilen, wird die Komplexität der Problematik noch deutlicher: Wie urteilt die richtende Person, die nicht ausgerechnet diejenige sein will, die die potentiellen Wiederholungstäter_innen falsch eingeschätzt und damit deren zukünftige Taten auf dem Gewissen hat? Wie urteilen die Psychiater_innen, die Anerkennung durch die Gerichte wollen, weil sie den Richtenden die schweren Entscheidungen abnehmen?
Folter in Deutschland?
Eine öffentliche Auseinandersetzung mit Folgen kam erst nach dem politisch brisanten Fall Mollath in Gang. Neben der „Unterbringung“ werden auch weitere Abgründe deutlich: Auch die Therapiemethoden sind äußerst problematisch, insbesondere die Maßnahmen des sogenannten „unmittelbaren Zwanges“. Sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der Bundesgerichtshof mussten sich bereits zur Folterqualität einzelner Behandlungsmethoden äußern. Auch für eben jene „Methoden“ wäre eine menschenrechtliche Betrachtung fruchtbar. So definiert die UN-Konvention gegen Folter in Art. 1 Folter als jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, wenn dies unter anderem einer Diskriminierung dient. Nicht erfasst werden diese, wenn sie sich aus legalen Sanktionen ergeben oder damit verbunden sind. Dass bei psychiatrischen Therapiemethoden der Grenzverlauf ungenau sein kann, bedarf sicher keines Verweises.
Verfassungsmäßige Ermächtigungsgrundlagen für „unmittelbare Zwangsmaßnahmen“ sind dogmatisch denkbar, aber in der Praxis scheinen sich Mittel und Zweck zu verkehren, womit die Eingriffsrechtfertigungen bröckeln. Kritiker_innen sprechen von einer zirkulären Schleife von „Therapie“ → Negativwirkung → Aufenthaltsverlängerung → Therapie, wobei die Heilungsaussichten gering sind im Vergleich zum Selbstzweckcharakter. Hinzu kommt schließlich auch noch wissenschaftliches Versagen und die Anwendung veralteter Methoden. Dass es vernünftige Erkenntnisse einer menschenwürdigen Psychiatrieforschung geben kann und auch psychische Krankheiten existieren, sei hier nicht bezweifelt. Doch der Unterschied zwischen einer freiwilligen Therapie auf der einen Seite und staatlichen Zwangsmaßnahmen auf der anderen ist in der individuellen Konsequenz gewaltig. Wir ertragen trotz allen Unheils durch Straftaten auch den „in-dubio-pro-reo-Grundsatz“. Warum stehen wir dann nicht auch zu einem (noch durchzusetzenden) leichter erträglichen „in dubio contra scientia psychiatriam“-Grundsatz und stellen uns gegen unerwiesene Erfolgsbehandlungen?
Warum hält man daran fest?
Seit den 1990er Jahren nahm der Maßregelvollzug quantitativ enorm zu. Was war denn anders seither? Neue Medien, mehr Fernsehen, andere Sicherheitsdiskurse? Kriminalitäts- und Erkrankungsstatistiken gehen mit dem Zuwachs an „Unterbringungen“ jedenfalls nicht einher.
Zwei Versuche einer Antwort:
Einerseits bewirkt die diskursive Betonung von Sicherheit und Gemeinschaftsschutz gegenüber den freiheitlichen Rechten „anderer“ eine erhöhte Akzeptanz für drastische Maßnahmen in besonderen Fällen. Rechtlich ist dadurch die extensive Auslegung der entsprechenden Normen üblich und sogar die „Bestrafung“ für die „Gefahr einer Gefährdung“ möglich. Zudem ist es viel leichter den politischen Willen für die Finanzierung von stationären Anstalten zu gewinnen, als flächendeckende ambulante Angebote zu schaffen, in die Forschung zu investieren und Transparenz und Kontrolle in Justiz und Vollzug zu etablieren.
Andererseits tendiert die Debatte in die philosophischen Gründe der Strafzwecktheorien. Dabei wird deutlich, dass die auf Kant zurückgehende Unterscheidung zwischen vernunftbegabten mündigen Täter_innen mit einem Willen und willensunfähigen Anderen noch nicht überwunden ist. Wenn die konkretisierenden Landesgesetze so einfühlsame Namen tragen wie das euphemistische „Unterbringungsgesetz“ oder das etwas plumpe „Psychisch-Kranken-Gesetz“, dann gibt es wohl auch keinen Anreiz sich zu erklären wie es diesen Menschen wohl geht, warum sie so oder so eingeschätzt werden und welches Moment jetzt genau über ihre Ausschließung aus dem Kreise der Normalen geführt hat. Nach Gustl Mollath wissen wir zudem, dass wir Angst haben müssen vor diesem disziplinarischen Mahnmal: Man darf mich bloß nicht für verrückt halten!
Italien zeigt es und schafft seine Anstalten ab. Die hiesige Reform wird die Voraussetzungen für eine „Unterbringung“ verschärfen, die „Unterbringungsdauer“ teilweise verkürzen und die Kontrollgutachten neu regeln. Dass dahinter allerdings ein ehrlicher Reformwille steht, darf bezweifelt werden.