Neue Entwicklungen im Fall LafargeHolcim – Schritt für Schritt zu einem neuen Verständnis strafrechtlicher Verantwortlichkeit von Großunternehmen

Es hat lange genug gedauert, bis LafargeHolcim, nach wie vor eines der weltweit führenden Unternehmen in der Zementproduktion, für seine kriminellen Verwicklungen in Syrien zur Rechenschaft gezogen wurde. Nun folgte auf erste Festnahmen im letzten Jahr eine Entscheidung der französischen Ermittlungsrichter_innen im Juni diesen Jahres, die von erheblicher Bedeutung für den zukünftigen strafrechtlichen Umgang mit multinationalen Großunternehmen sein könnte.

Die Gerichtsentscheidung vom 28.06.2018 – Was hat sich getan?

Was sich in einem vorhergegangenen Blogeintrag zur Thematik Anfang diesen Jahres abzeichnete, aber aus bisherigen Erfahrungen dennoch unwahrscheinlich erschien, ist nun tatsächlich geschehen: In Frankreich ist erstmals ein Unternehmen, eine juristische Person, der Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt worden. Damit wird im Ermittlungsverfahren von nun an auch in diese Richtung ermittelt und solche Vorwürfe erstmals gegen den Konzern als Ganzes gerichtet. Verfahren gegen mittlerweile entlassene Mitarbeiter wegen Vorwürfen der Terrorismusfinanzierung und Gefährdung von Dritten laufen parallel.

In einem aktuellen Beitrag erläutert Claire Tixeire (ECCHR) ausführlich die Kernprobleme und Erwartungen zum Fall aus Sicht der Organisation.

Krisensituationen bieten in all ihrem Chaos immer wieder Schlupflöcher, aus denen Profit geschlagen werden kann. Das ECCHR treibt das Thema Corporate Accountability schon seit Jahren voran und forderte in verschiedensten Fällen eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für transnationale Großunternehmen. Vorstöße gegen Großunternehmen gab es in der Vergangenheit genug, so etwa in den USA wegen des Vorgehens von Shell in Nigeria oder wegen der Machenschaften Nestlés in Kolumbien. Nun ist erstmals ein Gericht einen Schritt weiter gegangen und hat gegen eine juristische Person den Vorwurf der Beihilfe zu Völkerrechtsverbrechen erhoben.

Erste Reaktionen seitens LafargeHolcim

Das Unternehmen hat sich bisher lediglich gegen die verhängten Maßnahmen der “contrôle judiciaire”, der gerichtlichen Kontrolle, der es während der Ermittlungen untersteht, rechtlich gewehrt, die neben einer Kaution von 30 Millionen Euro höchstwahrscheinlich auch die Arbeitsvorgänge des Unternehmens während der Ermittlungen erheblich einzuschränken droht.

Bezüglich der Vorwürfe wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit gab es bisher lediglich ein Firmenstatement, das jegliche Vorwürfe zurückweist. Die Verantwortlichkeit wird ausschließlich auf ehemalige Mitarbeiter abgewälzt, die man mittlerweile längst entlassen habe. Der neue LafargeHolcim-CEO Jan Jenisch beteuert wie so viele seiner Kolleg_innen, dass die Versäumnisse in Syrien auf Fehlern einiger weniger basierten, von denen sich niemand mehr im Unternehmen aufhalte. Damit scheint der Vorstellung dieses Wirtschaftsriesens nach alles getan. Das grundsätzliche Problem, dass auch diese Personen meist auf Anweisung Vorgesetzter handeln und von einem gesamtunternehmerischen Profitstreben getrieben sind, wird übersehen. Eine Reflektion der firmeneigenen “can do”-Attitüde, die überhaupt erst dazu geführt hat, dass Mitarbeiter_innen im Stich gelassen wurden, lässt sich nicht erkennen.

Neue Compliance-Regeln – nicht mehr als ein notwendiger Schritt in die richtige Richtung

Immerhin: LafargeHolcim arbeite nun mit strengeren Compliance-Regeln und habe aus den vergangenen Fehlern lernen können, so Jenisch in der Neuen Zürcher Zeitung.

Eine Überarbeitung der Compliance wäre ein begrüßenswerter erster Schritt. Interessant wäre jedoch zu wissen, was die neuen Regelungen für einen vergleichbaren Fall wie 2010 in Jalabiya vorsehen:

Hat man aus den dortigen Fehlern gelernt oder soll hier lediglich vom eigentlichen Problem abgelenkt werden? Wäre eine unmittelbare Evakuierung sämtlicher Mitarbeiter_innen angeordnet? Wie erheblich müsste die Gefahr sein, um das Unternehmen dazu zu bewegen, lieber zu früh als zu spät die Produktion einzustellen? Nach welchen Kriterien sucht man sich Partner_innen in Krisenregionen (die offensichtlich einen Kern des für LafargeHolcim relevanten Markts ausmachen) aus? Nach welchen Kriterien werden Situationen vor Ort ausgewertet, wo doch Jenisch’s Plan für die Zukunft immer mehr auf eigenständiger, dezentralisierter und regionaler Arbeit der Tochterfirmen beruht? Auf Basis welcher Informationen entscheidet man sich für oder gegen neue Märkte oder Kooperationen?

Auf die neuen Compliance-Regeln angesprochen, reagierte Claire Tixeire (ECCHR) mit der Forderung nach einem generellen Umdenken in der Kultur und Herangehensweise dieser Großkonzerne. Neue Regelungen wären nur als Schritt in die richtige Richtung zu verstehen, wenn sie klar erkennen lassen, dass Menschenrechte gegenüber Profit prioritisiert werden.

An den vom ECCHR formulierten Kernforderungen gegen den Konzern würden sie jedoch nichts ändern: So ist nach wie vor ein Kompensationsfonds, aus dem Betroffene angemessen entschädigt werden können, das Mindeste, was LafargeHolcim einrichten solle. Außerdem müsse den Betroffenen rechtliches Gehör verschafft werden.

Noch ist unklar, ob LafargeHolcim es zum Verfahren kommen lässt. Es sieht jedoch danach aus, dass das Unternehmen Rechtsmittel gegen die Anschuldigungen einlegen wird. Seitens des ECCHR geht man von einer Anfechtung der Vorwürfe aus und rechnet mit einem aufwändigen Verfahren.

Nach alldem sollte LafargeHolcim einiges daran liegen, die neuen Compliance-Regelungen für die Öffentlichkeit sichtbar zu implementieren und es nicht nur bei leeren Worten zu belassen. Vielleicht bietet ja das Strafverfahren Raum dafür und eine Chance, die Betroffenen der Entscheidungen der damaligen Leitung wieder in den Mittelpunkt zu rücken.

Potenzielle Ausgänge und erste Auswirkungen

Was den Konzern letztlich erwartet, ist schwer vorherzusehen. Mit der Strafbarkeit juristischer Personen für Völkerrechtsverbrechen betreten die vorsitzenden Richter_innen und alle beteiligten Parteien Neuland. Gerade diese Neuartigkeit und das damit einhergehende Präzedenzpotenzial machen diesen Fall auch für andere Länder der Welt so interessant:

Nach französischem Strafrecht ist es möglich, Geldstrafen zu verhängen, Tätigkeitsverbote auszusprechen und letztlich sogar die juristische Person im Ganzen aufzulösen, vgl. Art. 131-37 ff. des Französischen Strafgesetzbuchs. Welche Strafen letztlich verhängt werden, liegt im Ermessen des Gerichts. Zum jetzigen Zeitpunkt ist jedoch nicht abzusehen, zu welchen Ergebnissen ein mögliches Verfahren käme.

In Deutschland wird eine strafrechtliche Verantwortlichkeit grundsätzlich nach dem “societas delinquere non potest”-Grundsatz verneint. Damit unterscheidet sich die Lage hier ganz klar vom Common Law und anderen europäischen Ländern wie Spanien und eben Frankreich, welche die strafrechtliche Verantwortung auch von Personenzusammenschlüssen strafrechtlich erfasst haben.

Es gibt aber die Möglichkeit, über das Ordnungswidrigkeitengesetz (z.B. §30 OWiG) oder die Gewerbeordnung (§35 GewO) ähnliche Sanktionen wie in Frankreich zu verhängen. Somit stellt sich der Weg, über den es zu Geldstrafen oder Tätigkeitsverboten kommen kann, lediglich anders dar. Im Ergebnis könnten aber auch von deutschen Gerichten solche Maßnahmen ergriffen werden.

Der Imageschaden, den sie im vergangenen Jahr haben hinnehmen müssen, ist jedoch jetzt schon massiv: Der Firmenname steht in Frankreich in direkter Konnotation mit Verbrechen und Daesh-Kollaboration. Die mediale Aufmerksamkeit, die eine Verwicklung in Geschäfte mit terroristischen Organisationen mittlerweile fast automatisch mit sich bringt, sorgt für andauernde Präsenz in den Medien bis zum heutigen Tage.

Trotzdem scheint es angesichts der neu-formierten Führungsriege des Unternehmens und der Entwicklung neuer Konzepte für die nahe Zukunft unwahrscheinlich, dass man sich selbst vom Markt zurückzieht. LafargeHolcim hat allerdings zuletzt die ehemaligen Hauptsitze in Zürich und Paris geschlossen und einen neuen in Zug eröffnet. Ob dies in irgendeiner Form auf die laufenden Ermittlungen zurückzuführen ist oder aus rein wirtschaftlichen Überlegungen geschehen ist, ist nicht klar erkennbar.

Im Oktober 2017 lenkte Sherpa für einen Moment den Blick auch auf eine mögliche Verwicklung des französischen Außenministeriums unter Präsident Hollande. Es gibt ebenfalls Anzeichen dafür, dass sich auch das FBI für den Fall interessiert, also auch die amerikanischen Behörden einen Blick auf den Verlauf des Verfahrens haben werden.

Ausblick

In den nächsten Monaten wird mit einer Reaktion von LafargeHolcim zu rechnen sein, alleine schon, um gesetzlichen Fristen für entsprechende Rechtsmittel nachzukommen. Dann wird sich zeigen, was sich in Frankreich nach der Entscheidung im Juni getan hat und ob der eingeschlagene Weg in den nächsten Monaten konsequent weitergegangen wird.

Der Fall hat das Potenzial, den Fokus auf die Menschenrechte, den Umgang globaler Konzerne damit und die Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen zu richten, der bei einer Verurteilung wegen Terrorfinanzierung der einzelnen ehemaligen Mitarbeiter aus dem Blick zu geraten droht. Wie im Beitrag aus dem März 2018 und weiter oben schon erwähnt, gibt es genug multinationale Konzerne, denen Verwicklung in schwerste Verbrechen in verschiedenen Krisenregionen der Welt vorgeworfen wird.

„to the haters with love“ – Warum ein verlorener Prozess auch Sieg sein kann. Zur Verurteilung von Sigi Maurer
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