Die juristische Ausbildung hat ein Diskriminierungsproblem. Dies betrifft die Gestaltung von Lehrmaterial ebenso wie die Besetzung von Professuren an juristischen Fakultäten. Frauen, People of Color und andere marginalisierte Gruppen sind in juristischen Welten nach wie vor drastisch unterrepräsentiert. Dabei handelt es sich um strukturelle Mechanismen, die nicht auf intentionales diskriminierendes Handeln von Einzelpersonen reduziert werden können. Auch wenn nicht jeder einzelne Fall für sich genommen problematisch ist, ergibt sich im Zusammenspiel von vielen subtilen Vorfällen und Darstellungen eine exkludierende Alltagskultur in juristischen Räumen.
Es ist das Anliegen des Blogs „Juristenausbildung. Üble Nachlese“, dieses Zusammenspiel sichtbar zu machen. Auf dem Blog sammelt der Arbeitsstab Arbeitsstab Ausbildung und Beruf des Deutschen Juristinnenbundes e.V. sexistische, rassistische und andere diskriminierende Beispiele aus der juristischen Ausbildung. Studierende und Lehrende, denen beispielsweise eine sexistische oder rassistische Darstellung in einem Übungs-Sachverhalt auffällt, können diese auf Üble Nachlese einreichen. Die Beispiele werden anonym veröffentlicht. Der Blog verfolgt das Ziel, auf das Problem aufmerksam zu machen und zu sensibilisieren – nicht öffentlich an den Pranger zu stellen.
Wer Sexismus in der juristischen Ausbildung thematisiert, trifft erfreulicherweise häufig auf Wertschätzung, aber mindestens ebenso häufig auf Widerstand. Dabei haben wir festgestellt, dass uns immer wieder die gleichen Abwehrreflexe begegnen. Zu unseren Favoriten dieser „All Time Classics“ (atc) an Abwehrreaktionen haben wir ausführliche Antworten erarbeitet. Diese präsentieren wir aktuell auf unserem Blog, einmal wöchentlich und immer am #FeministThursday.
So möchten wir beispielsweise erläutern, warum „überspitzte“ Darstellungen nicht für alle „witzig“ sind und warum der Verweis darauf „bei mir habe sich noch keiner beschwert“ nicht trägt. Aber auch grundsätzlichere Fragen werden behandelt, zum Beispiel nach der Fairness juristischer Prüfungen, dem Ideologievorwurf gegen Gender-Perspektiven in der juristischen Ausbildung und dem Objektivitäts- und Neutralitätsmythos der Rechtswissenschaft. Bislang ist in dieser Reihe erschienen:
#1: “Die Fälle sind Originalurteilen und damit der Wirklichkeit nachgebildet.”
Unsere Antwort: Ja und nein. Es stimmt, dass sich die Ausbildung an der Rechtsprechung orientiert. Allerdings wird eine Gerichtsentscheidung selten eins zu eins als Ausbildungsfall verwendet. Sie wird aufbereitet für Ausbildungszwecke, indem sie gekürzt und umgeschrieben wird. Dabei stehen rechtliche Aspekte und deren Vermittlung im Vordergrund.
Die Kritik sexistischer, rassistischer oder heteronormativer Fallgestaltung bezieht sich zumeist darauf, wie einzelne Personen im Sachverhalt dargestellt werden. Wieviel davon dem jeweiligen Originalurteil entlehnt, oder was der Phantasie der Fallgestalter*innen geschuldet ist, dürfte von Fall zu Fall verschieden sein. Im Zivilrecht beispielsweise werden persönliche Eigenschaften von Kläger*innen und Beklagten selten detailreich thematisiert. Wir wissen nicht, welche Einzelpersonen die umfangreiche Rechtsprechung zum Gebrauchtwagenkauf initiiert haben. Aber warum sollte es sich, wie die Schuldrechtsfälle in der juristischen Ausbildung oft nahelegen, nur um weiße, heterosexuelle Männer handeln? Weil es um Autos und Geld geht? Wohl kaum. Immerhin gibt es auch zahlreiche Fälle, die weniger zur Stereotypisierung einladen.
Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich, die stereotypen Darstellungen in den zur Falllösung aufbereiteten Klausuren im Wesentlichen auf die Originalfälle zurückzuführen. Es ist zu vermuten, dass Originalfälle in aller Regel stark umgeschrieben werden, um sie für Lehre und Prüfung geeignet zu machen. Interessant ist deshalb der Prozess, wie Fälle für die Lehre umgeschrieben werden und welche Fälle aus der Praxis überhaupt als lehrtauglich und interessant erscheinen. Nur ein kleiner Bruchteil der Originalfälle schafft es letztlich in die Lehrbücher.
Unser Tipp: Wenn Fälle für die Lehre zugeschnitten werden, sollte es in erster Linie um eine taugliche Aufbereitung einer rechtlichen Frage gehen. Diese lässt sich auch ohne sexistische oder rassistische Stereotype darstellen. Wem ein detailliert ausgeschmückter Fall zur besseren Merkbarkeit wichtig ist, der/die könnte in Zukunft einfach mehr Vielfalt abbilden und eben nicht jeden Fall weiß, männlich, heteronormativ besetzen. Jedenfalls bieten dafür auch Originalfälle einen breiten Ausgestaltungsspielraum.
#2: „Die Wirklichkeit ist nunmal so, dass Männer lieber Autos fahren und Frauen eher an Schminktipps interessiert sind. Juristische Ausbildungsliteratur ist nicht der Ort, um eine Umerziehung der Gesellschaft zu bewirken.“
Unsere Antwort: Vielleicht lohnt sich dann ein Blick über den Tellerrand. Es wird sicher eine bereichernde Erkenntnis sein, dass Männer an Tipps für gutes Aussehen interessiert sind und Frauen gern Auto fahren. Oder auch, dass Männer nicht gern Auto fahren und das Frauen nicht an Schminktipps interessiert sind.
An der Aussage wird aber auch deutlich, dass Generalisierungen solcher Art problematisch sind, denn sie bilden nur eine sehr begrenzte Lebensrealität ab. Wird nur diese eine, eingeschränkte Realität dargestellt, trägt das wiederum zur Verfestigung von Rollenstereotypen bei. Es geht also nicht um Umerziehung, sondern um eine realistischere Abbildung der großen Vielfalt an Lebenswirklichkeiten.
Unser Tipp: Auch in juristischem Ausbildungsmaterial sollten möglichst viele und unterschiedliche Lebensrealitäten repräsentiert werden, die der Diversität der Studierendenschaft gerecht werden. Hierin liegen nicht zuletzt ungenutzte didaktische Potentiale: Finde ich mich als Student_in in einer Fallkonstellation wieder und erachte ich diese als relevant für mein eigenes Leben, werde ich vermutlich mit einer größeren Motivation an die Lösung herangehen als bei Sachverhalten, die mit meiner Lebensrealität nicht im Entferntesten zu tun haben.
#3: „Beschwert euch nicht: Im Strafrecht kommen Männer dafür nicht gut weg.“
Unsere Antwort: Auch im Strafrecht ist es problematisch, wenn Ausbildungsfälle einseitig (Geschlechter-)Stereotype bedienen. Häufig kommen durch stereotype Plots in strafrechtlichen Ausbildungsfällen alle Seiten „schlecht weg“ – Frauen werden als wehrlose und schutzbedürftige Objekte dargestellt, während die Täter ein Klischee von Männlichkeit bedienen.
Besonders problematisch finden wir, wenn männliche Täter in Fällen auf einmal einen Migrationshintergrund haben („Täter Ü und Ö“), während die sonstigen Akteur*innen in juristischen Ausbildungsfällen in der Regel „Deutsche“ sind bzw. ihre Herkunft nicht weiter thematisiert wird. Wir finden daher auch im Strafrecht eine pluralere Repräsentation begrüßenswert, weshalb nichts gegen mehr Betrügerinnen*, Diebinnen*, Räuberinnen* in Ausbildungsfällen spricht.
Das Argument, dass Männer in Ausbildungsfällen vermeintlich „diskriminiert“ werden, finden wir allerdings fragwürdig. Diskriminierungen resultieren nicht zuletzt aus gesellschaftlichen Macht- und Ungleichdimensionen, denen Männer weit weniger ausgesetzt sind.
Unser Tipp: Es sollten gesellschaftliche Realitäten nicht ausgeblendet werden, sondern im Gegenteil in der Ausbildung kritisch beleuchtet werden.
Dafür reicht die Repräsentation in Fällen allein nicht aus. Es bedarf einer intensiven inhaltlichen Auseinandersetzung. Dimensionen von Geschlechterhierarchie und vergeschlechtlichter Gewalt müssen deshalb im Strafrecht – und auch in den anderen Rechtsgebieten – in den Blick genommen werden. Dies kommt unseres Erachtens bislang in der juristischen Ausbildung viel zu kurz. Gerade bei geschlechtsspezifischer Gewalt, von der Frauen häufiger als Männer betroffen sind, gehen Relativierungsversuche am Problem vorbei und zu Lasten der Betroffenen.