Das umstrittene Urteil des Landgerichts Frankfurt zum Flugverbot für israelische Staatsbürger bei Kuwait Airways ist auch in antidiskriminierungsrechtlicher Hinsicht interessant. Es zeigt, wie schwer es Gerichten fällt Antisemitismus unter die Kategorien des Antidiskriminierungsrechts zu subsumieren und ihn in seinen aktuellen Ausformungen zu erfassen. Nicht nur in Deutschland.
„Das Landgericht hat das Gesetz falsch angewendet.“ So lautete die in der Sache völlig berechtige Kritik deutscher Arbeitsrechtler an der Entscheidung des LG Frankfurt vom 16. November 2017. Das Gericht sah in der Weigerung einer Fluggesellschaft, israelische Passagiere zu transportieren, keine Diskriminierung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Die Beklagte frage „lediglich nach der Staatsangehörigkeit“ – und die ist in §§ 1, 19 AGG nicht geschützt. Das Gericht lehnte auch das Vorliegen einer „mittelbaren Benachteiligung wegen der ethnischen Herkunft oder wegen der Religion i.S.v. § 3 Abs. 2 AGG“ ab. Die komme zwar „in Betracht, weil Angehörige eines bestimmten Staates typischerweise (wenn auch nicht zwingend) durch ihre Abstammung, ihren nationalen Ursprung und ihre Religion in diesem Staat geprägt sind.“ Für das kuwaitische Gesetz, auf das die Fluggesellschaft ihre Weigerung gründet, spiele es jedoch „keine Rolle, ob die israelischen Staatsangehörigen jüdischen, christlichen oder sonstigen Glaubens sind.“ Gleiches gelte „für eine ethnische Herkunft oder Rasse.“
Eine verdeckte Diskriminierung ist auch eine Diskriminierung
Die Frankfurter Richter verkennen dabei nicht nur offenen Auges, dass die überwiegende Mehrheit der Israelis – und damit von der Regelung betroffenen Personen – Juden und Jüdinnen sind. Nach ständiger Rechtsprechung von EGMR, EuGH und BVerfG handelt es sich damit mindestens um eine mittelbare Diskriminierung. Ein Blick in die Kommentarliteratur zum AGG zeigt, dass es sich nach ganz herrschender Meinung vorliegend sogar um einen Fall unmittelbarer Diskriminierung handelt: Wer scheinbar auf die Staatsangehörigkeit abstellt („Wir vermieten nicht an Ausländer.“), aber eigentlich die Herkunft meint, diskriminiert verdeckt und damit unmittelbar „aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft“ (für viele Bauer/Göpfert/Krieger, § 1 AGG, 3. Aufl. Rn 24).
Genau das ist beim kuwaitischen Gesetz Nr. 21 (Einheitsgesetz zum Israel-Boykott) aus dem Jahr 1964 der Fall. Wer mit einem Israeli Handel treibt, wird mit Gefängnisstrafe, harter Gefängnisarbeit oder Geldstrafe bestraft und muss auf eigene Kosten an der Frontseite seines Geschäfts ein Schild befestigen, auf dem er der geschäftlichen Kontakte zu Israelis bezichtigt wird. Wer auf Handel mit Israelis hinweist, also denunziert, wird belohnt. Das Gesetz erinnert nicht nur an das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, es richtet sich auch ausschließlich gegen den Staat Israel als jüdischen Staat, selbst wenn es dabei arabische Israelis trifft.
Auch nach Antisemitismus-Definition der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA), die von der EU-Kommission und seit September 2017 auch von der Bundesregierung verwendet wird – handelt es sich um eine antisemitische Maßnahme. Manifestationen des Antisemitismus können danach auch die Fokussierung auf den Staat Israel sein, wenn er als jüdisches Kollektiv wahrgenommen wird. Eine Kritik an Israel, die sich auf einem Niveau bewegt, wie sie auch ein beliebiges anderes Land treffen könnte, ist nicht als antisemitisch anzusehen. Delegitimierung und Doppelstandards bezogen auf Israel sprechen dagegen für eine antisemitische Maßnahme. Das kuwaitische Boykottgesetz richtet sich ausschließlich gegen israelische Staatsbürger*innen und Kuwait erkennt auch das Existenzrecht Israels nicht an. Genug Indizien, die mindestens die Beweislastverschiebung des § 22 AGG auslösen, und damit der beklagten Airline auferlegt hätten, den Nachweis zu erbringen, dass es sich nicht um eine antisemitische Maßnahme handelt.
Dass das Landgericht die Auseinandersetzung mit dieser Frage scheute – das Wort Antisemitismus sucht man in der Urteilsbegründung vergeblich – ist mit schlechter Kenntnis der AGG-Dogmatik jedoch nur unzureichend erklärt. Zwei weitere Gründe liegen nahe, die sich auch in anderen Urteilen spiegeln: Ein enges Antisemitismusverständnis und eine rechtliche Dogmatik, die dazu einlädt, einzelne Diskriminierungsmerkmale statt strukturelle Diskriminierungsrealitäten zu prüfen.
Antisemitismus = abgeschafft?
So wie es verschiedene Formen von Rassismen gibt, tritt auch Antisemitismus nicht einheitlich auf. Zu den vier Grundphänomenen zählt die Antisemitismusforschung christlichen Antijudaismus, anthropologisch-biologistischen Rassenantisemitismus, sekundären Antisemitismus (z.B. Holocaustleugnung) und in bestimmten Konstellationen Antizionismus, wobei die Formen sich oft vermischen. Darauf hat die IHRA Definition von Antisemitismus reagiert. Deutsche Gerichte entscheiden derweil oft an diesen Erkenntnissen vorbei und hängen weiter einer Definition an, die Antisemitismus auf den rassischen Antisemitismus der Nationalsozialisten reduziert.
Aufsehen erregte die Entscheidung des Amtsgericht Wuppertal, dass einen Brandanschlag auf die Wuppertaler Synagoge zwar strafrechtlich verurteilte, aber im Ergebnis nicht als antisemitisch befand, weil die Täter angaben, sie hätten damit die Aufmerksamkeit auf den Gaza-Konflikt lenken wollen. Warum es sich um eine antisemitische Tat handelte, hat Stefan Laurin treffend beschrieben: „Für […] Kritik an Israel […] ist die Wuppertaler Gemeinde so sehr Ansprechpartner wie eine katholische Kirche oder ein von Türken betriebener Laden: nämlich überhaupt nicht. Es sei denn, man ist der Ansicht, dass Juden, egal, in welchem Land […] sie leben, nichts anderes sind, als der verlängerte Arm der israelischen Regierung.“
Das enge Antisemitismusverständnis bildet sich auch in zivilrechtlichen Verfahren ab, in denen sich Personen mit Unterlassungsverfügungen gegen die Bezeichnung „Antisemit“ wehren. Zum Beispiel im Elsässer-Ditfurth-Prozess. Der rechte Publizist Jürgen Elsässer findet unter anderem, ein Prozent der „internationalen Finanzoligarchie“ erdrossele „die 99 Prozent […] in ihrer Zinsschlinge“ und nennt im selben Atemzug, „die Herren Rockefeller, Rothschild, Soros, Chodorkowski”. Nach Ansicht des Landgerichtes und des Oberlandesgerichts München äußert sich antisemitisch aber nur, wer „die Überzeugungen teilt, die zur Ermordung von 6 Millionen Juden unter nationalsozialistischer Schreckensherrschaft geführt haben […].“
Das Urteil riss den Journalisten Deniz Yücel zu der sarkastischen Bemerkung hin, der Antisemitismus sei in Deutschland abgeschafft. Die Parallelen zum rechtlichen Umgang mit Rassismus liegen auf der Hand: Wenn jemand einen Polizisten in einer als rassistisch empfundenen Polizeikontrolle als Rassisten bezeichnen, ist die Chance groß, dass Gerichte urteilen, das sei eine Beleidigung. Rassismus und auch Antisemitismus sind nach dieser Lesart Relikte des historischen Nationalsozialismus, die im gegenwärtigen Neonazismus fortleben. Jenseits dessen gelten sie als überwunden.
Historische Referenzen: Nationalsozialismus und Jim Crow
Die Externalisierung von Rassismus und Antisemitismus in die Vergangenheit und an vermeintliche Ränder der Gesellschaft ist kein ausschließlich deutsches Phänomen. Das zeigen die Debatten um Post-Racialism und um die Frage „Sind Juden weiß?“ in den USA. Auseinandersetzungen um die historischen Ursachen und die gesellschaftliche Verantwortung für Ungleichheitsverhältnisse spiegeln sich besonders im Antidiskriminierungsrecht. Tatsächlich begann die Setzung von Recht gegen Rassismus und gegen Antisemitismus vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen antisemitischen und antiziganistischen Rasserechts und des Holocaust. Daher stammt die Antidiskriminierungskategorie „Rasse“ im internationalen und im deutschen Recht und damit kann auch die beschriebene Tendenz erklärt werden, Rassismus und Antisemitismus an nationalsozialistischen Rassenantisemitismus rückzubinden und so zu reduzieren.
Prägend für internationale Menschenrechtsabkommen, das Grundgesetz und europäisches Antidiskriminierungsrecht war aber auch das US-amerikanische Verfassungsrecht. Hier verwies die Kategorie „race“ auf das Erbe der Sklaverei: die rassistische Segregation von Afroamerikaner*innen durch die Jim Crow-Gesetze. Dieses historische Erbe und die Festlegung auf Kategorien, wie „Rasse“ oder „Abstammung“ erschweren eine formelhafte Übertragung auf neuere Phänomene des Antisemitismus und des Rassismus.
Diskriminierungsmerkmal jüdisch – oder: Sind Juden weiß?
Für den US-amerikanischen Kontext wird das an einer Entscheidung des Supreme Court aus dem Jahre 1987, Shaare Tefilia Congregation vs. Cobb, deutlich. Nach dem ihre Synagoge mit antisemitischen Symbolen und Slogans, wie „Tod den Juden“ und „White Power“ beschmiert worden war, hatte die Gemeinde Shaare Tefilia Schadensersatz nach einer Antidiskriminierungsvorschrift eingeklagt, die Verletzung von Eigentum verbietet, wobei die Formulierung lautet: racially discriminating. Die Kläger selbst vertraten die Auffassung, dass Juden zwar keine Rasse sind, von der Vorschrift aber geschützt seien, weil die Täter Juden als rassisch verschiedene Gruppe ansehen und deren Handlung auf rassistisch-antisemitischen Vorurteilen gründete. Eine ähnliche Definition findet sich in der Gesetzesbegründung zum AGG, wo es zu § 1 AGG heißt, „dass nicht das Gesetz das Vorhandensein verschiedener menschlicher „Rassen“ voraussetzt, sondern dass derjenige, der sich rassistisch verhält, eben dies annimmt.“ Die Täter im Fall Shaare Tefilia, die noch in der Verhandlung angaben, ihr Ziel sei es gewesen, „die jüdische Rasse zu beleidigen“, argumentierten dagegen spitzfindig: Juden könnten sich gar nicht auf das Gesetz berufen, denn sie seien ja keine Rasse. Die beiden ersten Instanzen folgten dieser Argumentation. Sie wiesen die Klage mit der Begründung zurück, dass Diskriminierung gegen Juden keine rassische Diskriminierung im Sinne des Gesetzes sei, weil Juden heutzutage als Teil der caucasian race angesehen würden, also „weiß“ seien.
Der Supreme Court folgte der Entscheidung der Untergerichte insofern, dass erstens eine rassistische Motivation allein nicht für einen Verstoß gegen das Gesetz ausreiche, sie müsse auch gegen eine Gruppe gerichtet sein, die der Gesetzgeber schützen wollte, als er das Gesetz verabschiedete. Die Vorschrift sei erlassen worden, um Personen vor Diskriminierung wegen deren Abstammung oder ethnischen Charakteristiken zu schützen. Er kam nur auf Umwegen zu einer Entscheidung zugunsten der Gemeinde, in dem er argumentierte, dass Juden zum Zeitpunkt der Verabschiedung der ursprünglichen Vorschrift, dem Civil Rights Act 1866, noch zu den Personen zählten, die als distinct race angesehen wurden.
Auf später erlassene Antidiskriminierungsgesetze, die vor racial discrimination schützen, ist diese Argumentation schlicht nicht anwendbar, folgt man der Logik des Supreme Courts, wonach Juden, wie auch Muslime, Caucasian, also rassisch weiß sind. Diese Schutzlücke wird vor allem im Bereich Bildung deutlich. Title VI des Civil Rights Act von 1964 schützt Studierende vor Diskriminierung aufgrund von „race, color, and national origin discrimination“. Antisemitismus, und auch antimuslimischer Rassismus, die antidiskriminierungsrechtlich als Diskriminierung aufgrund der Religion gelten, sind deshalb rechtlich nicht bzw. nur schwer adressierbar.
Zugehörigkeit oder Zuschreibung
Die Argumentation des Supreme Courts, der Civil Rights Act wolle vor Diskriminierung „wegen der Abstammung oder ethnischen Charakteristiken“ schützen, lädt auch zu einer seltsam anmutenden Abstammungsprüfung ein. Letzteres ist seit Inkrafttreten des AGG der Trend im deutschen Recht: Glaubt man den meisten AGG-Kommentaren, sind Juden, wie auch Sinti und Roma, nunmehr eine Ethnie im Sinne des Rechts. Diese Bestimmung verdankt das deutsche Recht der von der britischen Rechtsprechung entwickelten Unterscheidung zwischen Juden als „Mitglieder einer vom Race Relation Act geschützten ethnischen Gruppe (Rn. 28)“ oder als religiöser Gruppe. Dabei geht es gar nicht darum, was Juden sind. Angesichts der weltweiten Vielfalt jüdischen Lebens eine gemeinsame jüdische Ethnie bestimmen zu wollen, erscheint bereits einigermaßen absurd. Die Zuweisung als Semiten haben einst die Antisemiten selbst vorgenommen. Im Unterschied zum Begriff Rassismus war das Wort Antisemitismus selbst bereits eine Wortschöpfung der Antisemiten.
Doch die Frage: „Sind Juden eine Ethnie oder eine Religion?“ ist schon falsch gestellt, wenn es nicht um die Religionsfreiheit, sondern um Antisemitismus geht. Denn dann führt die ethnische Gruppenbestimmung vom eigentlichen Problem weg. Mit Adorno gewendet ist Antisemitismus „das Gerücht über die Juden“[1] und das hat mit Zugehörigkeit wenig zu tun. Wer also mit Recht insistiert, dass Juden und Jüdinnen bis heute nicht weiß sind, meint damit nicht deren Hautfarbe, Abstammung oder Ethnizität, sondern den Fakt, dass sie weitgehend unabhängig von ihrem Dasein und Verhalten facettenreichen antisemitischen Zuschreibungen und daraus resultierender Diskriminierung ausgesetzt sind. Für Deutschland hat das zuletzt der Zweite Antisemitismusbericht eindrücklich gezeigt. Aufgabe von Antidiskriminierungsrecht ist es diese Phänomene und Effekte klar zu benennen, zu verhindern und wiedergutzumachen, nicht ethnologische Forschungen anzustellen.
Antisemitismus wirkt intersektional und postkategorial
Rasse, Ethnie, Religion, …. ein Katalog solcher „Diskriminierungsmerkmale“ lädt Gerichte auch ein bisschen dazu ein, „das Gesetz falsch anzuwenden“, nämlich Zugehörigkeiten zu prüfen – und die Frage, ob eine Handlung rassistische oder antisemitische Zwecke oder Effekte hat, nicht zu stellen. Mit Martha Minow gilt es dagegen, den Fokus von der „Differenz der Person zu der sozialen Beziehung, die diese Differenz produziert“ zu verschieben. Antisemitismus ist kein „Merkmal“ der davon Betroffenen. Er lässt sich auch nicht in eine einzige Diskriminierungskategorie pressen: Rassistische und antisemitische Zuschreibungen, Religion, Sprache und Staatsangehörigkeit, ganz unterschiedliche Aspekte spielen hier intersektional zusammen. Für dieses Zusammenspiel von rassistischen Zuschreibungen und Religion passen Konzepte wie kultureller Rassismus oder Antisemitismus besser als Begriffe wie Rasse, Ethnie und Religion.
Deshalb ist die Forderung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS), angesichts des Urteils in Sachen „Kuwait Airlines“ eine neue Diskriminierungskategorie „Staatsangehörigkeit“ ins AGG einzuführen leider eine Scheinlösung. Um – wie die ADS zu recht einklagt – künftig sämtlichen Formen der Diskriminierung rechtlich entgegentreten zu können“, muss auch Antisemitismus im Gesetzestext benannt und in seinen aktuellen Ausprägungen rechtlich diskutiert und anerkannt werden.
Der Beitrag ist zuerst auf dem Völkerrechtsblog am 14. Februar 2018 erschienen.