“We are in the same storm, but not in the same boat.”

Über eine dringend notwendige Veranstaltung zum (un)social Distancing

Die Veranstaltung Social Distancing in Refugee Shelters? vom 14. Mai 2020 beleuchtete die Situation von geflüchteten Personen in Sammelunterkünften und in Deutschland allgemein während Covid-19. In einem aufrüttelnden Online-Panel kritisierten Jennifer Kamau von International Women* Space, die Berliner Rechtsanwältin Barbara Wessel und Sarah Lincoln von der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. die teilweise desaströsen Zustände in Lagern, wiesen auf Grundrechtsverletzungen hin und diskutierten mögliche Lösungsansätze. Organisiert wurde die Veranstaltung von der Refugee Law Clinic, der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte sowie dem Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin.

Die Krise im Schatten der Pandemie

Nach dem sogenannten Sommer der Migration 2015 hat die Aufmerksamkeit der Medien für die Situation geflüchteter Personen nachgelassen und mit Covid-19 sind ohnehin nahezu alle anderen tagespolitischen Themen von den Titelseiten verschwunden. Das ist schlecht, denn die Zustände in den Unterkünften für Geflüchtete verlangen nach der Empörung der vierten Gewalt. Jennifer Kamau attestierte anhand anonymisierter Berichte von Einwohner:innen einen schlechten Zustand: Frauen*, in Heimen und Camps auch zuvor schon strukturell isoliert, hätten mangels Internet oder internetfähiger Geräte keinen Zugang zu Informationen über Covid-19 und die Maßnahmen dagegen. Die unzureichende Aufklärung von Seiten der deutschen Behörden führe zu Chaos. Die Bewohner:innen der Unterkünfte könnten sich zwar durch Gruppenbildung um die Personen mit Smartphones oder anderem Internetzugang bedingt selbst organisieren. Allgemein zugängliche, umfassende staatliche Auskünfte könne das aber nicht ersetzen. In einer Unterkunft in Henningsdorf bei Berlin beispielsweise wird nicht ausreichend informiert, stattdessen ist die Polizei dauerhaft präsent. Vielerorts fehlten Seife, Waschmittel oder Desinfektionsmittel; teilweise komme auch das Putzpersonal nicht mehr. Im schlimmsten Fall würden Personen die Unterkünfte aus Angst vor Ansteckung verlassen und riskierten, undokumentiert zu leben. Und wie soll eigentlich Distanz gehalten werden in einer Unterkunft, in der möglichst viele auf engem Raum untergebracht werden?
Das Vorliegen dieser Missstände wurde inzwischen in verschiedenen Gerichtsentscheidungen bestätigt.

Problematisch, so ergänzte Barbara Wessel, verlaufe auch die Nachverfolgung von Neuinfektionen und Infektionsketten. Um das Nachverfolgen potentieller Ansteckungen kümmere sich in den Lagern niemand. Die Quarantäneregeln und ihre Umsetzung seien schwammig. Viele Geflüchtete hätten Angst, als Kontaktperson einer infizierten Person in eine andere Unterkunft transportiert zu werden, wo soziale und gesundheitspolitische Strukturen noch schlechter seien. Durch eine solche Umquartierung würden sie essentielle Unterstützungsstrukturen, die sie sich in ihrer derzeitigen Unterkunft aufgebaut hätten, verlieren. Dass sie deshalb möglicherweise den Kontakt mit Infizierten verschweigen, kommt einer effektiven Isolation nicht sonderlich entgegen.

Darüber hinaus müssen geflüchtete Personen in allen Bundesländern, außer Hamburg und Bremen, im Krankheitsfall einen Arztbesuch vorher beim Sozialamt beantragen, wo dann ein:e Mitarbeiter:in individuell darüber entscheidet und gegebenenfalls einen Krankenschein ausstellt. Zur Vorbeugung weiterer Ansteckungen sollte auf persönliche Termine aber unbedingt verzichtet werden. Einen Krankenschein zu erhalten, darf kein inhärentes Gesundheitsrisiko bergen. Selbst wenn der Krankenschein per Mail geschickt wird, kostet das in einer Pandemie wertvolle Zeit und Gewissheit. Für den konsequenten Gesundheitsschutz wäre es jetzt endgültig Zeit, diesen bürokratischen Zwischenschritt abzuschaffen und Geflüchtete wie alle anderen Menschen in Deutschland nach eigenem Befinden zu einer ärztlichen Behandlung gehen zu lassen. Diese Forderung wurde auch vom Panel formuliert.
Für undokumentierte Geflüchtete wird der Zugang zur ärztlichen Behandlung daneben nochmals erschwert, weil die Sozialbehörde, die den Krankenschein ausstellt, gem. § 87 Abs. 2 AufenthaltsG verpflichtet ist die Person bei der Ausländerbehörde zu melden, sodass sie aufenthaltsrechtliche Konsequenzen befürchten muss. Muss der Krankenschein unbedingt beibehalten werden, so wäre wenigstens eine deutschlandweite Einführung des anonymen Krankenscheins sinnvoll, den es in Berlin schon gibt: So müssen Undokumentierte ihre Identität nicht preisgeben. Die Finanzierung würde vom Land übernommen werden.
Warum aber muss es überhaupt so viele Barrieren vor einer ärztlichen Behandlung geben? Eigentlich immer, aber vor allem in einer Pandemie, sollte jeder Mensch problemlos und ohne Angst vor rechtlichen Konsequenzen ein:e Ärzt:in besuchen können. Das Recht auf Gesundheit, ein von Deutschland anerkanntes Menschenrecht, beinhaltet auch den Zugang zur gesellschaftlichen Gesundheitsversorgung. Denn, wie es der Direktor von Ärzte der Welt, François de Keersmaeker, formulierte: „Corona macht keinen Unterschied nach Aufenthaltsstatus, Versicherungsstatus oder Wohnsituation – ein Gesundheitssystem kann es sich nicht leisten, diesen Unterschied zu machen.“

Der Grundrechtsschutz kränkelt

Sind diese Zustände mit dem Grundgesetz noch vereinbar? Dass deutsche Flüchtlingsunterkünfte wegen desolater Zustände in die Kritik kommen, ist nichts Neues. Leider ist es auch nichts Neues, dass schon unter normalen Umständen ohne Pandemie die Grundrechtskonformität mancher Unterkünfte bezweifelt werden muss (vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte, S. 63 ff.). Viele dieser Unterkünfte missachten die Privatsphäre ihrer Bewohner:innen, die besondere Gefahr (geschlechtsspezifischer) Gewalt und die Gesundheitsgefahr durch fremdenfeindliche und rassistische Straftaten von außen. Die Forderung der Panelteilnehmerinnen nach einer generellen Schließung von Sammellagern ist vor diesem Hintergrund einleuchtend.

Sarah Lincoln wies darüber hinaus auf die potentiellen weiteren Grundrechtsverletzungen während Covid-19 hin: Der Staat habe aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gegenüber jeder Person eine Schutzpflicht bezüglich des Lebens und der Gesundheit. Wenn der Staat Menschen eine bestimmte Unterkunft vorschreibe und sie dort selbst unterbringe, dann müsse er den Bewohner:innen auch den Schutz von Gesundheit und Leben garantieren. Unter den oben genannten Umständen tut er das aber nicht. Der SWR referiert eine Studie zu Masseninfektionen in Unterkünften, wonach diese zu den Corona-Brennpunkten werden könnten. Ein Extrembeispiel ist ein Erstaufnahmelager in Ellwangen, wo sogar negativ getestete Personen in einem Raum mit positiv getesteten Personen schlafen mussten: hier wird nicht geschützt, hier werden im Gegenteil Menschen dem Gesundheitsrisiko erst akut ausgesetzt. Ein Blick auf die Infektionszahlen in dieser Unterkunft bestätigt das, denn von 600 Einwohnenden waren nahezu 400 Personen infiziert.

Neben den Gesundheitsrisiken stellt sich angesichts der Anordnung von Quarantäne für gesamte Unterkünfte und alle ihre Bewohner:innen zudem die Frage, ob diese Gesamtquarantänen mit dem Grundgesetz vereinbar sind. In Schwerin wurden Personen in ihrer Unterkunft eingesperrt, die Tür in den Garten mit Metallgittern verriegelt – ein Bewohner versuchte infolgedessen, sein Zimmer anzuzünden, um irgendwie herauszukommen. In Suhl kam es zu Protesten, als eine komplette Unterkunft pauschal unter Quarantäne gestellt und durch die Polizei abgeriegelt wurde. In einer Notunterkunft bei München sollen Absperrgitter zur Isolation potentiell Kranker genutzt worden sein. In einer Erstaufnahmeeinrichtung in Neumünster kam es wegen der anhaltenden Quarantänemaßnahmen zu einem Tumult mit Polizeieinsatz. Sarah Lincoln diagnostizierte hier einen Eingriff in das Recht der persönlichen Freiheit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. 104 GG , wenn ganze Unterkünfte ohne Differenzierung unter Quarantäne gestellt werden.
Auch der Flüchtlingsrat Berlin weist darauf hin, dass eine pauschale Abriegelung von allen, nicht nur den Verdachtsfällen, keinen Schutz, sondern Freiheitsentzug darstellt. Auch wenn Quarantänemaßnahmen wichtig sind: Allen Einwohnenden einfach den Ausgang zu verbieten, teilweise unter Abriegelung, ist ein Eingriff in die körperliche Fortbewegungsfreiheit. Als Rechtfertigung wäre wohl der Infektionsschutz anzubringen: Infizierte oder Verdachtspersonen sollen nicht in die Außenwelt. Aber eine gefängnisgleiche, pauschale Absperrung ist keine angemessene Maßnahme mehr. Zumal Sarah Lincoln treffend einwandte, dass der Richtervorbehalt gem. Art. 104 Abs. 2 GG durch eine Pandemie nicht an Gültigkeit verliere – auch wenn er hier wohl ignoriert werde.

Immerhin eine positive Entwicklung wurde vom Panel diskutiert: Jene Gerichte, welche auch die Missstände in den Unterkünften konstatiert hatten, haben Bewohnenden erlaubt, diese zu verlassen. Das VG Leipzig ist mit seiner Entscheidung vorangegangen. Die Wohnpflicht in der staatlichen Unterkunft (§ 47 Abs. 1 AsylG) könne aus gesundheitlichen Gründen gem.
§ 49 Abs. 2 AsylG beendet werden (unter II. 1.). Der klagende Asylbewerber musste sich Toilette, Küche und Dusche mit 49 weiteren Personen teilen, wo ein Abstand von 1,5 Metern oder die hohen Hygienestandards nicht eingehalten werden konnten. Erfreulicherweise sind andere Gerichte dieser Rechtsprechung gefolgt.
Es gibt also wenigstens den Ausweg, dass Menschen in einer kritischen Umgebung das Recht einklagen, sich eine sicherere Unterkunft suchen zu dürfen. Sarah Lincoln Schlussfolgerung daraus ist aber mehr als zutreffend: Eigentlich sollte sich nicht jede Person einzeln dieses Recht vor Gericht erstreiten müssen. Wenn hier viele Gerichte dieselbe Rechtslage feststellen, handele es sich nicht mehr nur um Einzelfälle. Vielmehr habe der Gesetzgeber nun die Pflicht, insgesamt diese Missstände anzugehen. Verfassungsrechtlich könne es jedenfalls nicht geboten sein, die generelle Wohnpflicht in einer risikobehafteten Umgebung noch aufrecht zu erhalten.

Eine kranke Gesellschaft
Homeoffice, Maskenpflicht, Abstandhalten, Desinfizieren – einfache Maßnahmen, eine schlimme Krankheit einzudämmen. Aber was ist mit denen, die diese Maßnahmen wegen Wissens- oder Handlungsbarrieren nicht einmal ausüben können? Jennifer Kamau fasst es richtig zusammen: It’s the people in the bottom who pay the highest price for Corona. Wie ein Highlighter unterstreicht das Virus die Ungleichheiten der deutschen Gesellschaft. Soziale Solidarität gibt es für hilfsbedürftige, nichtdeutsche Menschen anscheinend nur eingeschränkt: das ist kein soziales, das ist unsoziales Distancing unserer Gesellschaft von jenen, denen wir helfen sollten. Wie Jennifer Kamau es formulierte: Wir fahren durch denselben Sturm in unterschiedlichen Booten. Und es gilt zu ergänzen: Zu wenige wissen davon, reden davon, prangern es an. Deshalb gilt: Öffentlichkeit schaffen, Diskussionen und Veranstaltungen wie diese abhalten und teilen und das Problem thematisieren – denn nur wenn wir uns eines Problems bewusst sind, können wir es auch angehen.

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