81.000 ungehörte Stimmen – Stillstand beim Wahlrecht für Menschen mit Behinderung

2019 wird ein „Superwahljahr“: Neben der Europawahl stehen auch die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen an. Superwahljahr? Nicht für alle: 81.000 volljährige Deutsche mit Behinderung sind von den Wahlen ausgeschlossen. Dieser Ausschluss ist weder verfassungs- noch völkerrechtlich haltbar. Eine Änderung der Wahlgesetze, die all diesen Menschen eine Teilnahme an der Wahl ermöglicht, ist daher überfällig.

Von den Wahlen ausgeschlossen sind laut dem Europawahlgesetz und den jeweiligen Landeswahlgesetzen (Brandenburg, Sachsen, Thüringen) ca. 81.000 Menschen, für die zur Besorgung all ihrer Angelegenheiten ein_e Betreuer_in bestellt ist. Für Bundestagswahlen ist die Rechtslage identisch, auch hier ist eine Stimmabgabe nicht möglich. Dies schränkt das demokratische Wahlrecht der Betroffenen maßgeblich ein, welches in Artikel 38 des Grundgesetzes bzw. dem Europawahlgesetz, den Landesverfassungen und Landeswahlgesetzen volljährigen Deutschen garantiert wird. Dieser Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl stellt einen wesentlichen Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung dar.

Vermeintliche Gründe für den Wahlrechtsausschluss

Ein Ausschluss von diesen Wahlen ist daher nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur aus zwingenden Gründen zulässig. Als solcher wird zur Rechtfertigung des Wahlrechtsausschlusses der Schutz der Kommunikationsfunktion der Wahl herangezogen. Der Ausschluss wird also damit begründet, dass Wähler_innen in vollem Umfang handlungs- und entscheidungsfähig sein müssen, um rationale, reflektierte und verantwortliche Wahlentscheidungen zu treffen. Menschen mit Behinderung, die unter Totalbetreuung stehen, so wird argumentiert, könnten eine solche Wahlentscheidung nicht treffen. Ließe man sie wählen, drohten irrationale Wahlentscheidungen und Wahlmanipulationen, indem etwa nicht die Wahlberechtigten selbst, sondern ihre Betreuer_innen oder Angehörige die Wahlentscheidung träfen.

Die Sorge vor irrationalen Wahlentscheidungen mag man als demokratiebegeisterter Mensch teilen; eine Pflicht zur rationalen Stimmabgabe kann es jedoch nicht geben – weder für Menschen mit, noch für Menschen ohne Behinderung, zumal sich kaum objektiv bestimmen lässt, was rational und was irrational ist. Dass jemand irrational wählen könnte, kann einen Wahlrechtsausschluss also jedenfalls nicht begründen. Darüber hinaus ist die Annahme, dass alle Menschen unter Totalbetreuung nicht zu einer wohlüberlegten Wahlentscheidung fähig seien, nicht haltbar: In der einzigen wissenschaftliche Studie zum Wahlrechtsausschluss, die im Auftrag des BMAS erstellt wurde, stellten die Autor_innen fest, dass „ein bestehendes dauerhaftes Betreuungsverhältnis in allen Angelegenheiten nicht unbedingt gleich bedeutend ist mit einer grundlegenden Unfähigkeit zum Treffen komplexer rationaler Entscheidungen.“

Auch die Gefahr von Wahlmanipulationen kann als Begründung für Wahlrechtsausschlüsse nicht überzeugen. Erstens besteht diese auch bei der Briefwahl, zweitens sind Verstöße gegen die Höchstpersönlichkeit der Wahl strafbar. Dass ein_e Betreuer_in die eigene berufliche Existenz riskiert, um den Ausgang der Wahl minimal zu beeinflussen, darf wohl bezweifelt werden, weshalb das Strafrecht hier das richtigere Instrument ist als ein präventiver und pauschaler Ausschluss von der Wahl.

Verfassungsrecht und Völkerrecht

Den Wahlrechtsausschluss halten neben dessen Befürworter_innen auch die Autor_innen der BMAS-Studie für rechtmäßig: Da die Betreuungsbedürftigkeit stets aufgrund einer richterlichen Einzelfallentscheidung festgestellt werde, sei der Wahlrechtsausschluss verfassungsrechtlich unbedenklich und stelle keinen Verstoß gegen die Garantie des Wahlrecht aus Art. 38 GG dar. Wie oben dargestellt, lässt der ermittelte Betreuungsbedarf aber gerade keine verallgemeinerbare Aussage über die Entscheidungsfähigkeit zu, was auch die Bundesvereinigung Lebenshilfe  gegen die Rechtmäßigkeit des Ausschlusses anführt. Darüber hinaus scheinen die maßgeblichen Regelungen des Betreuungsrechts völlig unterschiedlich interpretiert zu werden: in Bayern ist die Wahrscheinlichkeit, unter Betreuung gestellt zu werden, 26 mal so hoch wie in Bremen.

Spätestens seit dem Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (BRK) im Jahr 2008 sollte außer Frage stehen, dass allen volljährigen Staatsbürger_innen das Wahlrecht zu gewähren ist. Der entscheidende Abschnitt der BRK bestimmt erfrischend klar: „Die Vertragsstaaten […] verpflichten sich, sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können, […] was auch das Recht und die Möglichkeit einschließt, zu wählen und gewählt zu werden“. Dass hiernach kein Spielraum besteht, Menschen mit Behinderung von der Wahl auszuschließen, hat auch der zuständige UN-Fachausschuss eindeutig und explizit für Deutschland bestätigt.

Berechtigt zur Landtagswahl, aber nicht zur Europawahl

Die Absurdität der aktuellen Regelungen tritt bei einem vergleichenden Blick in die unterschiedlichen Bundesländer zutage: Während die Wahlrechtsausschlüsse in den Bundesländern, in denen nächstes Jahr gewählt wird, greifen, sind ebendiese Ausschlüsse in Nordrein-Westfalen und Schleswig-Holstein inzwischen abgeschafft.

Auch bei der Europawahl zeigt sich ein uneinheitliches Bild: Menschen mit Behinderung in Deutschland dürfen ihre Stimmen nicht abgeben. Wer in Italien, Großbritannien oder Schweden lebt, darf wählen.

Wahlrechtsausschlüsse beenden

Die Wahlrechtsausschlüsse lassen sich daher ersatz- und problemlos streichen. Praktische Bedenken stehen dem nicht entgegen, nach geltendem Recht gibt es schon die Möglichkeit, eine_n Wahlhelfer_in mit ins Wahllokal zu nehmen. Dies wurde denn auch in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein erfolgreich für Menschen unter Totalbetreuung praktiziert. Auch bei den Parteien der großen Koalition scheint sich diese Erkenntnis durchgesetzt zu haben; die Streichung des Wahlrechtsausschlusses hat sich die Koalition für diese Legislaturperiode vorgenommen. Allerdings war eben diese Streichung auch schon im Koalitionsvertrag der letzten Regierung verankert. Es passierte: nichts.

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