In einer aktuellen Entscheidung weist das Arbeitsgericht Berlin die Klage einer muslimischen Lehramtsreferendarin ab, die in einer Grundschule unterrichten möchte, jedoch aufgrund ihres Kopftuchs als Lehrkraft abgelehnt wurde. Richter Andreas Dittert hält diese Diskriminierung mit Verweis auf das Berliner Neutralitätsgesetz für zulässig. Dieses statuiert ein pauschales Verbot religiöser Kleidungsstücke für Lehrkräfte, steht aber seit Januar 2015 im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Das Bundesverfassungsgericht fordert konkrete Anhaltspunkte
2015 heißt es im Karlsruher Urteil, dass ein pauschales Verbot religiöser Bekundungen in öffentlichen Schulen durch das äußere Erscheinungsbild von Pädagog_innen mit deren Glaubens- und Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht zu vereinbaren sei. Diese dürfe zwar eingeschränkt werden, allerdings nur bei einer „hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität“.
Richter Dittert hätte durch eine Richtervorlage im Wege einer konkreten Normenkontrolle das Bundesverfassungsgericht zu einer gründlichen Überprüfung der Berliner Regelung anregen können. Er entschied sich jedoch letztlich dagegen. Begründung: Er sei von der Verfassungswidrigkeit des Berliner Neutralitätsgesetzes nicht überzeugt, bloße Zweifel würden nicht genügen. Das Karlsruher Urteil von 2015 beziehe sich auf die damalige Regelung in Nordrhein-Westfalen und sei auf Berlin deshalb nicht direkt übertragbar, heißt es in einer Pressemitteilung des Arbeitsgerichts.
Ein Generalverdacht gegen kopftuchtragende Lehrerinnen ist nicht gerechtfertigt
Das seit 2005 in Berlin geltende Neutralitätsgesetz enthält in § 2 ein pauschales Verbot etwa für Lehrkräfte religiöse Symbole und Kleidung im Unterricht zu tragen. Auf eine konkrete Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität wird hier jedoch nicht abgestellt. Der Umstand, dass sich das Karlsruher Urteil konkret auf das nordrhein-westfälische Landesgesetz bezog, ändert nichts an der universell übertragbaren Feststellung der Bundesverfassungsrichter_innen, dass ein Generalverdacht gegen kopftuchtragende Lehrerinnen nicht gerechtfertigt ist und pauschale Verbote gerade nicht mit der Verfassung in Einklang zu bringen sind.
Gutachten zum Berliner Neutralitätsgesetz stellt Verfassungswidrigkeit fest
Auch ein 2015 von der Berliner SPD-Fraktion in Auftrag gegebenes umfassendes Gutachten des Wissenschaftlichen Parlamentsdienstes des Abgeordnetenhauses (WPD) erklärte das Berliner Neutralitätsgesetz zumindest in Teilen als verfassungswidrig. Laut Empfehlung des WPD sollte das Berliner Gesetz dahingehend geändert werden, dass im Einzelfall das Tragen von religiösen Symbolen oder Kleidungsstücken möglich sein soll: wenn es als religiöse Pflicht wahrgenommen wird und wenn dadurch der Schulfrieden nicht gestört wird.
Warum sich die Berliner Verwaltung mit der gebotenen Änderung des Neutralitätsgesetzes so schwer tut ist nicht nachvollziehbar. Auch andere Bundesländer wie Hessen, Bremen und das Saarland revidierten ihre Verbote im Verwaltungsweg nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.
Absolute Neutralität in der Schule ist eine Illusion
Richter Dittert führte in der Verhandlung an, dass das strikte Berliner Neutralitätsgesetz auch Ausdruck des hohen Stellenwerts ist, den die staatliche Neutralität im Land Berlin genießt. Grundsätzlich ist der Gedanke, Schüler_innen im Schulkontext vor allem im Grundschulalter nicht mit Weltanschauungen und religiösen Überzeugungen zu konfrontieren richtig. Religiöse Symbole haben in Klassenzimmern nichts zu suchen und keine Lehrkraft sollte Schüler_innen ihre religiösen Überzeugungen aufdrängen dürfen oder versuchen zu missionieren. In der Praxis ist die vollkommene Neutralität im deutschen Schulalltag jedoch ohnehin nicht gegeben.
Neutralität als „oberste Staatsmaxime“?
Wie weltanschaulich neutral kann eine Schule sein, wenn es dort Weihnachtsferien gibt? Wie neutral ist eine Lehrkraft mit einer Kreuzkette um den Hals? Da religiöse Schmuckstücke vom Berliner Totalverbot ausgenommen sind, ist dies im Schulalltag keine Seltenheit.
Die Berliner Regelung behandelt zwar formell alle Religionen gleich, faktisch sind aber typischerweise muslimische Frauen betroffen. Hierin liege nicht nur eine Benachteiligung aufgrund der Religionszugehörigkeit, sondern auch aufgrund des Geschlechts, so Maryam Haschemi Yekani, die Anwältin der Klägerin.
Ein Land, in dem die CDU/CSU die stärkste Fraktion ist, in dem die Kirche einen der größten Arbeitgeber_innen darstellt und in dem Kirchensteuern erhoben werden, ist eben kein laizistischer Staat. Deutschland muss sich den Vorwurf der Doppelmoral gefallen lassen, wenn es die Neutralität als „oberste Staatsmaxime“ anpreist.
Neutralität durch Pluralität schaffen
Es ist weder sinnvoll, noch notwendig, dass im Schulkontext die Augen vor der gesellschaftlichen Pluralität und Realität verschlossen werden. Heranwachsende sollen dort vielmehr auf das vorbereitet werden, was ihnen später in der Gesellschaft begegnet. Um echte Neutralität zu erreichen, sollte der Staat Pluralismus anerkennen und nicht einzelne Weltanschauungen und Religionen gegeneinander privilegieren. Der Staat kann seine Neutralität zeigen, indem er sich nicht in jegliche weltanschaulich-religiöse Kleidungsart einmischt, solange Individuen mit ihrem Verhalten keine Grenzen übertreten. Es sollte danach gefragt werden, ob Missionierung im Unterricht tatsächlich stattfindet, anstatt einer kopftuchtragenden Lehrerin dies pauschal zu unterstellen.
Die Kopftuchdebatte – in der Praxis oft viel weniger relevant
Gerade in einem Bundesland wie Berlin, in dem viele Schüler_innen muslimischen Glaubens sind, ist es gewinnbringend, wenn diese Pluralität auch innerhalb des Lehrer_innenkollegiums repräsentiert wird.
Dies hat nicht nur einen motivierenden Effekt auf muslimische Schüler_innen, sondern ist auch eine Chance dafür, dass Vorurteile abgebaut werden können. Die „Kopftuchdebatte“ ist und bleibt ein politisch heiß diskutiertes Thema. In der Praxis, also im Schulalltag, ist das Kopftuch einer Lehrerin dagegen viel weniger präsent und relevant. Dies werde auch durch Erfahrungsberichte aus den Bundesländern bestätigt, in denen kein pauschales Kopftuchverbot gilt und in denen schon einige Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichten, erklärt Kerstin Kühn, Beraterin und Juristin vom Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg (ADNB), während der Verhandlung.
Der Klägerin steht gegen die Entscheidung des Arbeitsgerichts nun die Berufung an das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg offen.