Architektur und Recht – (T)Räume der Inklusion im Turiner Gefängnis

“Architektur und Recht als Instrumente zur sozialen Inklusion”, so wurde eine Session im Rahmen des Workshops „Lernen an echten Fällen – Law Clinics als fachübergreifendes Lehrkonzept“ am 15. Januar 2016 an der Berliner Humboldt-Universität angekündigt. In der juristischen Ausbildung haben Architektur und Recht abgesehen vom Bereich des Baurechts und der Haftung bei Baumängeln eher nichts miteinander zu tun. Daher stellte ich mir im Vorfeld der Veranstaltung die Frage, in welchem Verhältnis die beiden Professionen zueinander stehen. Die Architektur als materielles Durchsetzungsmittel von Recht? Recht setzt der Architektur Grenzen, Recht ist durch Raum begrenzt?

Ein naheliegendes Beispiel für die Verknüpfung von Recht und Architektur ist die totale Institution des Gefängnisses. Doch während hier die Architektur als Mittel zur Rechtsdurchsetzung dient, wird ihr durch Recht auch Grenzen gesetzt: Der Berliner Verfassungsgerichtshof stellte beispielsweise 2009 fest, dass die Zellen der Teilanstalt I der JVA Tegel mit einer Größe von 5,25 Quadratmeter und einer Toilette ohne Abtrennung im Raum für eine längerfristige Unterbringung nicht mit der Menschenwürde vereinbar seien. Die Frage nach den Minimalstandards, die eine menschenwürdige Unterbringung von Menschen erfordert, stellt sich momentan auch im Hinblick auf Unterkünfte von Geflüchteten.

Ein Projekt der Law Clinic „Prison and Rights“ der Universität Turin hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Zusammenwirken von Recht und Architektur als Instrumente der sozialen Inklusion zu nutzen, um gerade Räume der Exklusion – das Turiner Gefängnis – in Räume der Inklusion und Integration zu verwandeln. Entsprechend dem Konzept einer Law Clinic arbeiten die Studierenden der Clinic praktisch an einem konkreten Projekt.

Interdisziplinarität als Herausforderung

Die Turiner Law Clinic zeichnet sich besonders durch ihren interdisziplinären und partizipativen Ansatz aus. In dem Projekt arbeiten Jura- und Architekturstudierende sowie Inhaftierte des Gefängnisses Turin zusammen. Die Leiterinnen und Mitarbeiterinnen des Projektes Frau Dr. Blengino und Frau Dr. Mondino berichteten von den Herausforderungen dieser Zusammenarbeit von Studierenden, die sehr unterschiedliche Arbeitsweisen im Studium vermittelt bekommen. Es sei sehr wichtig, eine gemeinsame Basis für die Zusammenarbeit zu schaffen. Doch letztendlich berichteten sie von einer idealen Ergänzung von Kreativität und Formalismus. Eine Herausforderung der Zusammenarbeit von den Studierenden mit den Inhaftierten stellte insbesondere die fokussierte Kommunikation dar, da die Inhaftierten selten die Möglichkeit des Kontaktes zu Menschen außerhalb des Gefängnisses haben. Der direkte Austausch ermöglicht eine Partizipation an Planung und Umsetzung und führt zur Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse der Inhaftierten.

Ein Gemeinschaftsplatz im Innenhof – Aufbrechen der Exklusion?

Anschaulich wurde der Ansatz der interdisziplinäreren Clinical Education durch das aktuelle Projekt: In der ersten Phase haben die Studierenden gemeinsam mit den Inhaftierten einen Plan für einen Gemeinschaftsplatz im Innenhof des Gefängnisses entworfen. Er soll als Aufenthaltsplatz für Besuche der Familien dienen. Dabei mussten die Interessen der Inhaftierten (hohes Maß an Privatsphäre) mit den rechtlichen Vorschriften sowie den Vorgaben der Gefängnisleitung (Möglichkeit der Überwachung) und Kostenerwägungen in Einklang gebracht werden. In einer zweiten Phase wurde der Platz in Zusammenarbeit von Architekturstudierenden und Inhaftierten realisiert und mit ökologisch nachhaltigen und kostengünstigen Materialien erbaut.

„Autocostruzione“

Dem Projekt liegt das von den Vortragenden mit der Abkürzung „R.E.A.L.“ (Kurz für engl.: Reintegrate degraded spaces, Ecosustainability, Autocostruzione/Self-construction, Labour market for disadvantaged workers) bezeichnete Konzept zugrunde. Dieses beschreibt die Elemente, mit denen die Zielsetzung des Projektes erreicht werden soll: Die Transformation von Räumen der Exklusion in Räume der sozialen Integration. Besonders interessant und bemerkenswert erscheint mir der Aspekt der „Autocostruzione“, ein italienischer Begriff aus der Architektur, der sich mit „Selbstbau“ übersetzen lässt. Grundsätzlich wird dieser Begriff verwendet, um den Prozess zu beschreiben, wenn Menschen ihr Eigenheim nahezu vollständig selbst erbauen. Die Idee wurde auf das Projekt so übertragen, dass die Inhaftierten des Gefängnisses unmittelbar in die Planung miteinbezogen wurden und diese dann gemeinsam mit den Architekturstudierenden den Gemeinschaftsplatz selbst erbaut haben. Als positive Effekte lassen sich hervorheben, dass zum einen die Inhaftierten sich für das Projektergebnis mitverantwortlich fühlen. Zum anderen haben sie die Möglichkeit, Fähigkeiten zu erlernen, die wiederum den Zugang zum Arbeitsmarkt in der Außenwelt erleichtern.

Partizipation in einer „totalen Institution“?

Eine weitere Dimension erhält das Projekt durch die Arbeit in einem Gefängnis. Die Vortragenden berichteten davon, dass sie in der Planung des Projektes davon ausgegangen sind, dass die Inhaftierten die Klient_innen des Projektes seien, deren Rechte und Vorstellungen es zu verwirklichen gelte. Doch im Laufe der Durchführung stellte sich heraus, dass häufig die Interessen der Gefängnisleitung im Vordergrund standen. Beispielsweise wurde als Bedingung für die Durchführung des Projekts gestellt, dass auch ein Platz für das Gefängnispersonal ausgebaut und verbessert wird. Während der Platz für das Gefängnispersonal nach Fertigstellung direkt eingeweiht und in Betrieb genommen wurde, steht die Inbetriebnahme für den fertigen Gemeinschaftsplatz der Inhaftierten noch immer aus.

Aus dieser Erfahrung lässt sich lernen, dass eine Abhängigkeit von autoritären Institutionen nicht unterschätzt werden darf und von Anfang an sichergestellt werden muss, dass die Interessen der beabsichtigten Klient_innen an erster Stelle stehen.

Ein tolles Projekt, das sehr viele wichtige Gedanken und Ebenen vereint: Zum Beispiel bereits die Fähigkeiten von Studierenden in der Praxis zu nutzen und Zielgruppen von Projekten zu den Hauptakteur_innen zu machen. Es zeigt, wie Recht in Verbindung mit anderen Disziplinen wie der Architektur effektiver gemacht werden kann, um Menschenrechte zu verwirklichen.

Ein Projekt, das hoffentlich Anstöße für weitere dieser Art liefern kann, um generell Menschen zu einer Unterbringung zu verhelfen, die sie nicht in ihrer Menschenwürde verletzt.

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