„Wenn sie die Alten und chronisch Kranken separieren, bin ich am nächsten Tag beim Bundesverfassungsgericht und klage!“. So äußerte sich der langjährige Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele. Mit seinen 80 Jahren zählter in Zeiten der Corona-Pandemiezur „Hochrisikogruppe“. Hintergrund seiner der Äußerung war ein Vorschlag des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer, Menschen im Alter ab 65 und aufgrund von Vorerkrankungen zu isolieren. Der Gedanke ist schon seit Beginn der Corona-Krise im Gespräch und ist auch nach den neuen „Lockerungen“ nicht vom Tisch. Sollte es tatsächlich zu einer solchen Regelung kommen, würde Ströbele wohl notfalls bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. So bedrückend der Gedanke auch ist, seine Klage hätte vermutlich leider keine Aussicht auf Erfolg.
Eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem
Bei dem Gedanken einer zwangsweisen Isolation kommen etliche Grundrechte in den Sinn: Die Bewegungsfreiheit, das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, die Allgemeine Handlungsfreiheit, das Grundrecht auf Familie und ggf. sogar das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, wenn eine vollständige Isolation z.B. zu Depressionen führt.Vor allem aber denkt man sofort an den Grundsatz der Gleichbehandlung in Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Damit dieser verletzt ist, muss die Isolation von Menschen aus „Risikogruppen“ eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem darstellen. Die Ungleichbehandlung liegt auf der Hand. Aber was ist mit dem Kriterium „von wesentlich Gleichem“? Instinktiv würde man das wohl bejahen, schließlich geht es hier um eine unterschiedliche Behandlung von Bürger*innen, von Menschen! Juristisch betrachtet ist es aber eine umstrittene Frage, welchen Bezugspunkt man wählt. Nimmt man als Oberbegriff Bürger*innen oder Menschen, so liegt fraglos eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem vor. Andererseits könnte man auch alte und junge Menschen oder gesunde und kranke Menschen als Oberbegriffe wählen. So warf die Juristin Jessica Hamed die Frage auf, ob die Situation eines älteren überhaupt mit der eines jungen Menschen vergleichbar sei. Sie kam zu dem Ergebnis, für die Unterscheidungsmerkmale „Alter“ und „Krankheit“ läge keine Ungleichbehandlung i.S.d. Art. 3 Abs. 1 GG vor, da es an der wesentlichen Vergleichbarkeit fehle. Der Gedanke hinter dieser Überlegung ist durchaus verständlich. Menschen aus „Risikogruppen“ sind in dieser Pandemie besonders gefährdet und befinden sich damit in einer anderen Situation. Trotzdem zeigt sich bereits hier das Dilemma hinter der Prüfung: Eine Reduzierung des Einzelnen auf sein Alter oder seine Krankheit und ein daran anknüpfender Vergleich zwischen dem Leben der einen mit dem Leben der anderen.
Ein Sonderopfer zugunsten der Allgemeinheit
Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich die Tendenz erkennen, die Vergleichsgruppen weit zu fassen und sich mit den Problemen auf der Ebene der Rechtfertigung auseinanderzusetzen. Entscheidend ist also, ob eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden kann.
Für eine Bejahung der Rechtfertigung kommt es vor allem darauf an, ob die Maßnahme als verhältnismäßig einzustufen ist. Auch wenn eine Ungleichbehandlung aufgrund des Alters sowie aufgrund von Krankheiten nicht unter Art. 3 Abs. 3 GG fällt, jedenfalls solange die Krankheiten nicht als Behinderungen einzustufen sind, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Bindung des Gesetzgebers an den allgemeinen Gleichheitssatz umso enger, je mehr sich die personenbezogenen Merkmale den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten annähern. Bei den Kriterien „Alter“ und „Krankheit“ ist eine enge Nähe zu den Kriterien in Art. 3 Abs. 3 GG unzweifelhaft gegeben, weswegen vorliegend der strenge Rechtfertigungsmaßstab des Art. 3 Ab. 3 GG heranzuziehen ist.
Die Isolierung von „Risikogruppen“ müsste danach einen legitimen Zweck mit Verfassungsrang verfolgen und zu dessen Erreichung geeignet, erforderlich und angemessen sein. Als legitimen Zweck lassen sich zahlreiche Aspekte aufzählen: Das Gesundheitssystem vor einer Überlastung schützen sowie schwere Grundrechtseingriffe bei Dritten verhindern bzw. die durch die Einstellung des öffentlichen Lebens erfolgten Eingriffe beenden. Letzteres gilt v.a. für stark betroffene Gruppen wie Ladenbesitzer*innen, aber auch für Kinder, die nicht über ausreichend technische Mittel verfügen und von Bildungsmöglichkeiten ausgeschlossen werden. Und natürlich lässt sich auch der Schutz der Menschen aus den „Risikogruppen“ selbst anführen. All dies sind Zwecke, die selbst Verfassungsrang genießen, also sog. kollidierendes Verfassungsrecht darstellen, und somit dem strengen Rechtfertigungsmaßstab standhalten.
Das Mittel einer vollständigen Isolierung müsste aber auch geeignet sowie erforderlich sein, um diese Zwecke zu erreichen. Hier stößt man auf äußerst problematische Fragen: Sind Menschen aus „Risikogruppen“ zu Hause tatsächlich stärker geschützt, wie lange müsste eine solche Isolierung andauern, wer gehört alles zur „Risikogruppe“ und sind die medizinischen Erkenntnisse bei einem so neuartigen Virus überhaupt ausreichend, um einen so starken Grundrechtseingriff zu rechtfertigen?
Auch zu diesen Fragen finden sich im juristischen Diskurs befürwortende Positionen. So hält der Staatsrechtler Ferdinand Gärditz vier bis sechs Wochen für durchaus gerechtfertigt. Gärditz zufolge wäre dies eine Art „Sonderopfer zugunsten der Allgemeinheit“. Diese Fragen müssten in einer juristischen Prüfung diskutiert werden. Letztendlich dürfte aber bei so detaillierten Fragen die sog. Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers greifen. Das Bundesverfassungsgericht wäre also nicht befugt, die eigene Auffassung an die Stelle der Einschätzung des Gesetzgebers zu setzen, sondern könnte nur prüfen, ob eine solche Regelung unzulänglich ist. Die Reichweite des Prognosespielraums hängt dabei von der Möglichkeit ab, inwieweit sich der Gesetzgeber Zeitpunkt der Entscheidung ein hinreichend sicheres Urteil bilden kann. Genau dies stellt in der derzeitigen Ausnahmesituation ein Problem darstellen. Bei einem Virus, über den kaum, wenn nicht sogar keine gesicherten Erkenntnisse bestehen, ist ein hinreichend sicheres Urteil kaum möglich. Dieser weite Gestaltungsspielraum entspricht einer abgestuften Kontrolldichte bei der verfassungsrechtlichen Prüfung. Auch die Geeignetheit und Erforderlichkeit wären daher zu bejahen, solange der Gesetzgeber ausreichend fundierte Begründungen liefert, was auch immer das in Zeiten von Corona bedeuten mag.
Eine rein pragmatische Abwägung?
Die wohl schwierigsten Fragen stellen sich im Rahmen der Angemessenheit. Damit ein Mittel als angemessen zu bewerten ist, darf es nicht außer Verhältnis zum Zweck stehen – eine Formel, die ohnehin ein großes Willkürpotential bietet. Hier muss nun eine Abwägung der Interessen und Rechte der Menschen aus den „Risikogruppen“ mit den Interessen und Rechten aller anderen Menschen erfolgen. Was wiegt also mehr: Die besitzhabende Person eines Geschäfts vor der Insolvenz zu schützen oder dem 80jährigen Menschen zu erlauben, seine Familie sehen zu können, wenn auch unter Einhaltung aller erforderlichen Distanzregelungen? Dies sind Fragen, die kaum beantwortet werden können, ohne sich anzumaßen, die Bedeutung des Lebens eines Menschen zu bewerten. Daher wird man sich in einer juristischen Prüfung wohl weiterhin damit behelfen müssen, sich von Einzelschicksalen zu lösen. So bezeichnete die einstige Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff eine Isolierung der besonders bedrohten Gruppe als eine „pragmatische Abwägung“. Als Argument führte sie an, dass eine Isolierung im Interesse aller sei, deren Überlebenschancen von ausreichend Behandlungskapazitäten abhängen. Dieses Argument findet man im aktuellen Diskurs häufig und es könnte tatsächlich der ausschlaggebende Grund sein, warum eine Isolierung dem strengen Rechtfertigungsmaßstab genügen dürfte. Denn würden Ärzte bei einer Überlastung des Gesundheitssystems letztendlich entscheiden müssen, welche Patient*innen sie aufnehmen und welche nicht, dann hieße es tatsächlich „Leben gegen Leben“. Auch wenn es also ein durchaus beklemmender Gedanke ist, das Leben einzelner Menschen im Rahmen einer pragmatischen Abwägung zu betrachten, gibt es in einer juristischen Prüfung wohl kaum einen andern Weg. Die Bejahung der Angemessenheit ist daher durchaus wahrscheinlich.
Theorie vs. Praxis
Auch wenn man die Frage der Angemessenheit nun als rein „pragmatische Abwägung“ betrachtet, lässt einen doch ein Gedanke nicht in Ruhe: Die praktischen Folgen einer solchen Isolation. Wie würden betroffene Menschen versorgt werden, welche Sanktionen würden für einen Verstoß gegen die Quarantäneanordnung angesetzt werden und müssten nicht auch diejenigen, die mit Menschen aus „Risikogruppen“ zusammenleben, isoliert werden?
Und darüber hinaus drängt sich noch ein ganz anderer beklemmender Gedanke auf: Die Gefahr, dass sich eine Isolation von alten und kranken Menschen auch nach dem Ende der Corona-Pandemie auf ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auswirken könnte.
Doch all diese Fragen würden sich bei einer rein pragmatischen Abwägung wohl nicht mehr stellen. Klar ist: Rechtlich möglich erscheint eine Isolation von „Risikogruppen“ durchaus.