Welche rechtliche Verantwortung trifft Zertifizierungsunternehmen? Wer darf sich auf ihr „grünes Licht“ verlassen, und unter welchen Umständen können Einzelpersonen Haftungsansprüche geltend machen, wenn sie durch das zertifizierte Produkt Schäden erleiden? Mit dieser Problematik hatte sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Februar dieses Jahres im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens zu beschäftigen. Hintergrund der durch den Bundesgerichtshof (BGH) vorgelegten Frage war der Skandal um billiges Industriesilikon in Brustimplantaten eines französischen Herstellers, dessen Qualitätssicherungsystem das deutsche Zertifizierungsunternehmen TÜV Rheinland überwacht hatte. Die Antwort des EuGH wirft die weitergehende Frage auf, inwiefern die von ihm aufgestellten Grundsätze auch auf andere rechtliche Konstellationen übertragbar sind, zum Beispiel ob auch für Zertifizierungsunternehmen in der Textilindustrie eine Haftung gegenüber zu Schaden gekommener Arbeiter_innen in Betracht kommt.
Der Ausgangsfall
Die französische Firma Poly Implant Prothèse (PIP) war jahrelang einer der größten Hersteller von Brustimplantaten. Nachdem es ab dem Jahr 2009 in Frankreich und Deutschland vermehrt zu Berichten über Rupturen von Brustimplantaten sowie Krebserkrankungen gekommen war, leitete die französische Aufsichtsbehörde Untersuchungen ein. Es wurde festgestellt, dass statt des vorgesehenen Spezialsilikons billiges Industriesilikon für die Brustimplantate verwendet worden war.
Die Rolle des TÜV Rheinland
Der deutsche TÜV Rheinland war im relevanten Zeitraum Zertifizierungsstelle der französischen Firma PIP. Gemäß § 6 des Medizinproduktegesetzes (MPG) dürfen Medizinprodukte in Deutschland nur in den Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen werden, wenn sie mit einer CE-Kennzeichnung versehen sind. Das MPG setzt unter anderem die europäische Richtlinie des Rates 93/42/EWG vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte in nationales Recht um. Der TÜV Rheinland ist eines von rund 80 Unternehmen in der Europäischen Union, welche als „benannte Stelle“ für diese Kennzeichnung der Medizinprodukte akkreditiert sind.
Die Verfahren in Frankreich und Deutschland
Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland erhoben von den mangelhaften Brustimplantaten betroffene Frauen Schadensersatzklagen gegen den TÜV Rheinland. Nach einigen gescheiterten Anläufen wurde der TÜV Rheinland von französischen Gerichten schließlich zu einer vorläufigen Schadensersatzzahlung an die Klägerinnen verurteilt.
In Deutschland lehnte im März 2013 das Landgericht Frankenthal die Schadensersatzklage einer betroffenen Frau ab. Dem erstinstanzlichen Urteil des Landgerichts Frankenthal schloss sich das OLG Zweibrücken als Berufungsinstanz mit Urteil vom 30. Januar 2014 mit gleicher Argumentation an: So entfalte der zwischen der Beklagten und der Fa. PIP geschlossene Vertrag keine Schutzwirkung zugunsten der Klägerin: Sinn und Zweck der durchgeführten Zertifizierung sei nicht der Schutz zukünftiger Kundinnen, sondern einzig die Ermöglichung der Fa. PIP , den Nachweis für die Freiverkehrsfähigkeit ihrer Implantate gegenüber den zuständigen Behörden zu erbringen. Das Gericht argumentierte weiterhin, dass eine Einbeziehung von Dritten nicht zu einer uferlosen Haftung führen dürfe, was bei einer Einbeziehung aller zukünftigen Kundinnen jedoch der Fall wäre.
Im Rahmen des Revisionsverfahrens entschied der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 9. April 2015, dass es für die Erfolgsaussichten der Revision entscheidend auf die Interpretation der Richtlinie 93/42/EWG ankomme. Der BGH legte daher dem Europäischen Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens im Sinne des Art. 267 AEUV drei Fragen vor, wobei die zweite und dritte Vorlagefrage sich auf spezifische Kontrollpflichten der Zertifizierer richteten und hier nicht näher behandelt werden sollen. Die erste Vorlagefrage richtete sich darauf, ob eine Einbeziehung der Klägerin in die Schutzpflichten des zwischen PIP und dem TÜV Rheinland geschlossenen Vertrags möglich ist, was die Vorinstanzen gerade abgelehnt hatten.
Die Entscheidung des EuGH
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs erging am 16. Februar 2017. Bezüglich der ersten Vorlagefrage stellte der EuGH fest, dass die in Frage stehende Richtlinie dem Schutz der Endempfänger_innen der Medizinprodukte diene. Folglich sei die „benannte Stelle“ zumindest auch zum Schutz der Endempfänger_innen der Medizinprodukte tätig. Ob tatsächlich eine Haftung bestehe, sei jedoch nach den jeweiligen nationalen Tatbestandsvoraussetzungen festzustellen. Der BGH lehnte schließlich mit Urteil vom 22. Juni 2017 einen Schadensersatzanspruch der Klägerin ab, da eine Pflichtverletzung des TÜV Rheinland nicht feststellbar sei.
Die Relevanz für Zertifizierer in anderen Branchen
Es stellt sich die Frage, inwiefern die beschriebene Konstellation und das ergangene Urteil das EuGH Argumente für eine mögliche Haftbarmachung anderer Zertifizierer z.B. in der Textilindustrie liefern können. Beispielhaft sollen hier die Brandkatastrophe in der Textilfabrik Ali Enterprises im pakistanischen Karachi im September 2012 und der Einsturz des Rana-Plaza-Fabrikkomplexes im April 2013 in Dhaka/Bangladesch herangezogen werden. In beiden Fällen waren kurz vor den verheerenden Unglücksfällen sogenannte Auditierungen durch europäische Unternehmen erfolgt: Das italienische Zertifizierungsunternehmen RINA Services hatte Ali Enterprises das Zertifikat SA 8000:2008 ausgestellt, in dem Fabrikkomplex Rana Plaza hatte der TÜV Rheinland erst einige Monate vor dem Einsturz einen Produzenten auditiert.
Zertifizierungen in der Textilindustrie weisen im Vergleich zu den Zertifizierungsprozessen im Bereich der Medizinprodukte einen grundlegenden Unterschied auf, welcher augenscheinlich zunächst gegen eine Vergleichbarkeit spricht. Während wie oben dargestellt bei Medizinprodukten eine Zertifizierung gesetzlich vorgeschrieben ist, sind Zertifizierungen in der Textilindustrie gänzlich freiwillig. Dies gilt sowohl für das auf Grundlage der Kriterien der NGO Social Accountability International (SAI) verliehene Zertifikat SA 8000:2008, als auch für die Auditierung auf Grundlage der Kriterien der Unternehmensplattform Business Social Compliance Initiative (BSCI). Weder die nationalen Gesetze des Produktionslandes noch die der Einfuhrstaaten verlangen solche Zertifikate. Eine gesetzliche Grundlage vergleichbar der Richtlinie 93/42/EWG existiert in diesem Kontext nicht.
Allerdings kommt es nach dem deutschen Recht für das Institut eines Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter maßgeblich auf den Willen der Vertragsparteien an. Die Frage muss also sein, inwiefern die Textilunternehmen sowie die Zertifizierungsunternehmen selbst durch Abschluss der Zertifizierungsvereinbarungen eine Einbeziehung der Arbeiter_innen bezweckten, dies also ihrem Vertragswillen entsprach. Betroffene Unternehmen wie der deutsche Textilhändler KIK haben sich in Bezug auf ihren eigenen Code of Conduct bis dato auf eine haftungsrechtliche Unverbindlichkeit berufen: Es sei nicht gewollt Arbeiter_innen rechtliche Ansprüche zu verschaffen. Entsprechend stellen sich Zertifizierungsunternehmen wie RINA Services auf den Standpunkt, durch die Verleihung von Zertifikaten könne ihnen keinerlei rechtliche Haftung gegenüber Dritten entstehen.
Hier lohnt ein Blick darauf, wie der EuGH mit dem gleichlaufenden Argument im Rahmen der Medizinprodukte umgegangen ist: Der Überzeugung der deutschen Gerichte, Sinn und Zweck des Gutachtens durch den TÜV Rheinland sei lediglich gewesen, einen Nachweis für die Freiverkehrsfähigkeit des Produktes zu erbringen, hingegen nicht, den Kundinnen Schadensersatzansprüche zu verschaffen, hat der EuGH eine Absage erteilt. Das Gericht schloss sich dieser (sehr technischen) Interpretation nicht an, sondern stellte auf das Wesen der zugrundeliegenden Richtlinie ab: Diese ziele sehr wohl (auch) auf den Schutz der Endverbraucher ab. Mit dem EuGH könnte man also argumentieren, dass Zertifizierungsunternehmen sich nicht auf ihr Interesse der reinen Zertifikatsverleihung berufen können, sondern sich vielmehr an dem dahinter stehenden substantiellen Sinn und Zweck der Vereinbarung messen lassen müssen.
Im Fall der Textilzertifizierungen bezeugt beispielsweise die Selbstdarstellung des BSCI den Willen, internationale Arbeitsrechtsprinzipien, wie Konventionen und Erklärungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) oder der UN Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte zum Schutz der Arbeiter umzusetzen. Diese Zielvorstellung ist zumindest nach außen hin erklärter Zweck der Zertifizierungsvereinbarung zwischen den Vertragsparteien. Lehnt man – gleichlaufend mit dem EuGH – die Interpretation ab, dass das Zertifizierungsunternehmen lediglich das Zertifikat verleihen möchte, ohne an der Substanz des Zertifikats interessiert zu sein, und das Unternehmen ebenfalls nur die Absatzmöglichkeiten verbessern will ohne eine verbesserte Stellung der Arbeiter_innen zu bezwecken, kann gemeinsamer Zweck des Auditierungsprozesses und des Zertifikats tatsächlich nur der verbesserte Schutz der Arbeiter_innen sein. Dies wiederum bedeutet, dass diese über die Konstruktion des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter in den Vertrag miteinbezogen sind und, sofern die weiteren Voraussetzungen (etwa Verschulden und Kausalität) vorliegen, Schadensersatzansprüche geltend machen können.
Relevant könnte in diesem Kontext auch sein, dass der EuGH die vorinstanzliche „pragmatische“ Argumentation deutscher Gerichte, dass eine Einbeziehung aller Kundinnen zu einer uferlosen Haftung führen würde und schon deshalb abzulehnen sei, nicht berücksichtigte. Vielmehr argumentierte das Gericht dogmatisch rein mit dem Schutzzweck der Norm (in diesem Fall der Medizinprodukte-Richtlinie). Auf diese Rechtsprechung ließe sich daher verweisen, sofern im Hinblick auf Sozialaudits in der Textilindustrie argumentiert würde, dass eine Haftung schon deshalb auszuschließen sei, weil die Anzahl der betroffenen Arbeiter_innen zu einer Ausuferung des Haftungsrisikos für den Zertifizierer führen würde.
Fazit
Aufgrund der unterschiedlichen rechtlichen Konstellationen ist die Entscheidung des EuGH nicht ohne weiteres auf andere Zertifizierungen übertragbar. Dennoch bedeutet die Absage des EuGH an einen technisch verstandenen, rein auf das Zertifikat als „Label“ gerichteten Willen der Vertragsparteien und das Abstellen auf Sinn und Zweck der maßgeblichen Rechtsgrundlage eine substantielle Stärkung der Argumentation für mögliche Haftungsansprüche von Arbeiter_innen auch im Bereich von Zertifizierungen in der Textilindustrie.