Du sollst nicht töten

Seit dem 10. Dezember 2015 ist das Gesetz, welches die geschäftsmäßige Sterbehilfe unter Strafe stellt, in Kraft. Welche Folgen der neue § 217 StGB für die mittelbar Betroffenen haben wird, ist fraglich. Vielleicht werden mehr Menschen mehr leiden. Vielleicht verhindert das Gesetz, dass Alte und Kranke sich zum Suizid gedrängt fühlen. Ob der Bundestag überhaupt eine “richtige” Entscheidung treffen konnte, darf mit Recht bezweifelt werden. Ob § 217 StGB wenigstens verfassungsgemäß ist, muss nun das Bundesverfassungsgericht entscheiden.

Ein Blick in eine beliebige Tageszeitung oder ein Internetportal genügt: Das Inkrafttreten des strafbewehrten Verbots der geschäftsmäßigen Sterbehilfe ist eine der wichtigsten gesetzlichen Neuerungen des Jahres 2016. Nach mehrjähriger Debatte in Politik und Gesellschaft hatte der Bundestag vergangenen November den Gesetzesentwurf der Abgeordneten Michael Brand (CDU) und Kerstin Griese (SPD) angenommen. Künftig ist die geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid mit einer bis zu dreijährigen Freiheitsstrafe bedroht.

Der neue Straftatbestand im System der Tötungsdelikte

Nach bisheriger Rechtslage machte sich eine Person strafbar, wenn sie einem anderen Menschen – auf dessen Bitten hin – eine tödliche Injektion verabreichte, vgl. § 216 StGB. Sofern diese*r Helfer*in den sterbewilligen Menschen aber lediglich beriet, welche Medikamente in welcher Dosierung zum Tode führen, der Person diese Medikamente beschaffte, die Spritze aufzog – dann erwartete ihn*sie keine Strafverfolgung. Sicher, das Verhalten dieser*s Helfenden war mitursächlich für den Tod eines Menschen. Aber da der letzte, entscheidende Akt durch den*die Suizidenten*in selbst vorgenommen wurde, kam für die Hilfsperson lediglich eine Strafbarkeit wegen Beihilfe in Betracht. Da der Suizid selbst in Deutschland aber nicht strafbar war – und im übrigen auch durch § 217 StGB nicht strafbar wird – es somit an einer beteiligungsfähigen Haupttat fehlte, hatte auch der Helfer kein strafbares Unrecht verwirklicht.

Mit Inkrafttreten des neuen Gesetzes wird diese doch relativ eindeutige Rechtslage nun verworrener. Künftig macht sich die Person strafbar, welche “geschäftsmäßige” Beihilfe zum Suizid leistet. “Geschäftsmäßig”, das heißt “auf Wiederholung angelegt”, wie sich den Materialien zum neuen § 217 StGB entnehmen lässt. Ob die Person die Absicht verfolgt, mit der “Sterbehilfe” Gewinn zu erzielen, soll hingegen unerheblich sein.

Der Wortlaut des neuen Gesetzes verdeutlicht aber, dass nicht systemwidrig eine Beteiligungsstrafbarkeit ohne Haupttat kreiert werden soll. Der oder die Suiziddienstleister*in ist vielmehr selbst Haupttäter*in einer vom Suizid an sich unabhängigen Straftat. Die Dogmatiker*innen unter den Strafrechtlern*innen wird dies beruhigen.

§ 217 StGB als Gefahr für die Palliativmedizin?

Welche Grauzonen das neue Gesetz kreiert, dürfte all jenen klar sein, die sich wenigstens oberflächlich einmal mit der Tätigkeit von Palliativmedizinern*innen auseinandergesetzt haben. Wohl die meisten Menschen wünschen sich, ihre letzten Tage, Wochen, Monate zu Hause zu verbringen. Dieses Privileg wird bisher jedoch nur Wenigen zuteil. Nach der Verabschiedung des neuen Gesetzes wird sich daran wohl auch nichts ändern – im Gegenteil. Viele todkranke Menschen sind auf Medikamente, insbesondere solche zur Schmerzlinderung, angewiesen. Dass solche ab einer gewissen Dosis letal wirken, ist kein Geheimnis. Behandelnde Ärztinnen oder Ärzte, die ihren Patienten*innen ein solches Medikament verschreiben, laufen also Gefahr, in den Anwendungsbereich des neuen § 217 StGB zu fallen. Jedenfalls dann, wenn sie – was der Regelfall sein dürfte – mehr als einen schwerkranken Menschen betreuen. Denn nimmt man das Tatbestandsmerkmal „ auf Wiederholung angelegt“ wörtlich, ist dieses bereits dann erfüllt, wenn Mediziner*innen es in Erwägung ziehen, im Laufe ihrer beruflichen Karriere mehr als einen Menschen bei dessen Suizid zu unterstützen.

Um der Gefahr der Strafverfolgung zu entgehen, wäre es Ärzten*innen natürlich möglich, mehrmals täglich ihre Patienten*innen zu besuchen und ihnen jeweils nur eine kleine Menge des Medikaments, genug für die nächsten Stunden, zur Verfügung zu stellen. Oder – wenn sie sichergehen wollen – das Mittel gleich selbst zu verabreichen. Theoretisch. Praktisch ist dies kaum zu bewältigen. Und wenn in den Gesetzesmaterialien zu lesen ist, zusätzliche Kosten seien durch das neue Gesetz nicht zu erwarten, weder für den Staat, noch für die Wirtschaft oder die Bürger*innen, dann klingt dies schon fast zynisch.

Pro, contra, oder was dazwischen – alles scheint vertretbar

Aktive Sterbehilfe in Deutschland, das ist ein schwieriges Thema. Die Gedenkstätte an der Tiergartenstraße Nummer 4 in Berlin – nicht weit vom Mahnmal für die ermordeten Juden Europas – erinnert an die Morde, die Deutsche unter dem Deckmantel der Euthanasie vor nicht einmal 80 Jahren begangen haben. Die Sorge vieler, dass es ohne ein ausdrückliches Verbot der Sterbehilfe zu einem Dammbruch mit nicht absehbaren Folgen kommen könnte, erscheint vor diesem Hintergrund eher verständlich.

Die Befürworter*innen des neuen Gesetzes argumentieren, durch ein Verbot der organisierten Sterbehilfe werde verhindert, dass alte oder kranke Menschen sich genötigt fühlten, vorzeitig aus dem Leben zu scheiden. Statistische Belege für diese Annahme legen sie nicht vor . Betrachtet man die (westliche) Gesellschaft als Ganzes, scheint eine solche Befürchtung aber nicht völlig abwegig. Du musst mehr leisten, schöner aussehen, dich anpassen und doch gleichzeitig (positiv!) aus der Masse herausstechen. Wenn du nicht spätestens mit 25 Chef*in bist, gehörst du zu den Loosern, und mit 40 ist sowieso alles zu spät. Das vermitteln Eltern, Fernsehen, Arbeitgeber*innen. Und erst die explodierenden Kosten im Gesundheits- und Sozialsystem… Was für einen Platz haben da noch Alte, Kranke, solche die nichts leisten? Und wie weit ist es von hieraus noch zu „lebensunwertem Leben“ ?

Aber rechtfertigt dieser bedauernswerte gesellschaftliche Zustand, Menschen auf Schiene, Strick und Messer zu verweisen, anstatt ihnen ein würdiges Ende zu gewähren? Geht es nicht genau um das, ein würdevolles Sterben? Dass die Abgeordneten, die am 6. November 2015 für den neuen § 217 StGB gestimmt haben, Menschen einen würdevollen Tod verweigern wollten, ist abwegig. Das Verbot von Sterbehilfevereinen wie Dignitas&co soll – ihrer Ansicht nach – die Menschen vielmehr davor bewahren, ihre letzten Minuten in der Hand von “Geschäftemacher*innen” zu verbringen. Für manche Menschen ist genau dies sicherlich der Inbegriff von Würdelosigkeit. Tod am Fließband.

Aber es gibt auch andere Menschen. Solche, denen Selbstbestimmung wichtiger ist als die Frage, ob mit ihrem Tod jemand anderes Geld verdient. Menschen, die Schmerzen mehr als alles andere fürchten. Denn, let’s face it, auch mit den besten Medikamenten lassen sich Leiden nicht in jedem Fall verhindern. Und dann gibt es die Menschen, für die gerade in Schmerz und Leid ein Teil ihres Menschseins liegt, für die “Würde” gerade das Ertragen dieses Leidens bedeutet.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ist es überhaupt möglich, dass der Staat einen Bereich regelt, der so existenziell ist wie die Frage, wie ich sterben will? Dass der Staat eine Regelung findet, die nicht irgendjemanden in seiner Würde verletzt?

Bei so vielen Fragen hätte man es vielleicht doch mit Katja Keul (Grüne) halten sollen. Vergangenen November zitierte sie während der Debatte um § 217 StGB Montesquie: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“

Verfassungsrechtliche Implikationen des § 217 StGB

Bereits vor Verabschiedung des Gesetzes waren Zweifel an dessen Verfassungsmäßigkeit laut geworden. Auf den ersten Blick erstaunt das. Schließlich kommt der Staat mit dem neuen § 217 StGB einmal mehr seiner aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG fließenden Pflicht, menschliches Leben zu schützen, nach. Rechtswissenschaftler*innen sind sich einig, dass dem Staat bei der Erfüllung solcher Schutzpflichten ein weiter Einschätzungsspielraum zukommt. Nur wenn der Staat jegliche Maßnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit seiner Bürger*innen unterlässt, verletzt er das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Mit Erlass des § 217 StGB trifft der Staat eine Maßnahme, die menschliches Leben schützt. Was kann hieran also verfassungswidrig sein?

Ein Blick in den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes liefert die Antwort. Allgemeine Handlungsfreiheit, Gewissensfreiheit, Menschenwürde – andere, kollidierende Grundrechte müssen mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in Ausgleich gebracht werden. Das wurde zum Beispiel bei der gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs deutlich: Der Gesetzgeber darf das aus Art. 2 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG fließende allgemeine Persönlichkeitsrecht von Frauen nicht gänzlich außer Betracht lassen.

Beim Thema Sterbehilfe ergibt sich ein ähnlicher Konflikt. Die staatliche Schutzpflicht bzgl. des menschlichen Lebens kollidiert mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Nur dass hier – anders als beim Schwangerschaftsabbruch – die Grundrechte nur einer Person betroffen sind. Dass der Staat einen Menschen auch vor sich selbst schützen darf, zeigt sich schon an der alltäglichen Praxis der gerichtlichen Unterbringung von Menschen in Psychiatrien, welche bisher stets als verfassungsgemäß beurteilt wurde. Aber wie weit darf ein solcher Paternalismus gehen?

Jedenfalls so weit, dass auch psychisch gesunden Menschen der Zugang zu tödlich wirkenden Medikamenten verwehrt wird. So hat jedenfalls das Verwaltungsgericht Köln in einem Urteil aus dem Dezember letzten Jahres entschieden – und sich zur Stützung seines Urteils unter anderem auf das neue Sterbehilfegesetz berufen.

Ob aber der § 217 StGB nicht doch zu weit, nicht doch in andere Grundrechte unverhältnismäßig eingreift und damit verfassungswidrig ist – das wird nun das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden haben. Ein Antrag, § 217 StGB vorläufig außer Kraft zu setzen, blieb jedenfalls erfolglos. Die Antragssteller seien durch das Gesetz schließlich nicht daran gehindert, sich in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung das Leben zu nehmen. Nur müssten sie dies eben ohne die Hilfe eines Sterbehilfevereins tun. Hingehen – so argumentiert die zweite Kammer des zweiten Senats – müssten Menschen, welche „weniger reflektiert“ bezüglich des eigenen Sterbens seien, vor eben solchen Vereinen geschützt werden. Ob diese Aussage darauf schließen lässt, dass die Rechtsgelehrten an den intellektuellen Fähigkeiten eines Teils der Bevölkerung zweifeln, oder ob es nur der übliche Paternalismus ist, soll hier offen bleiben.

Die endgültige Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des § 217 StGB – und in wie weit sich das Bundesverfassungsgericht hierbei von der aktuellen Rechtsprechung des EGMR leiten lassen wird – bleibt abzuwarten. Aber egal, wie die Richter*innen aus Karlsruhe über die Verfassungsbeschwerde gegen das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe entscheiden werden – dass sie eine bessere Antwort finden werden als das Parlament, ist mindestens zweifelhaft.

Vergewaltigung verurteilen! - Reformbedürftigkeit des Sexualstrafrechts
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