Stagnation in der Sterbehilfedebatte in Europa

In der nationalen Sterbehilfedebatte gibt es Neuigkeiten: am 10.12.2015 ist in Deutschland der neue § 217 StGB, der die geschäftsmäßige Sterbehilfe verbietet, in Kraft getreten. Elf Tage später hat das Bundesverfassungsgericht den Antrag von vier Mitgliedern des Sterbehilfevereins, das Verbot außer Vollzug zu setzen, abgelehnt. Es ist jedoch nicht notwendig, sich vertieft mit dem neuen Gesetz und der aktuellen Rechtsprechung zu beschäftigen, um festzustellen, dass das Selbstbestimmungsrecht auf nationaler Ebene zunehmend Einschränkungen erfährt. Die aktuellen Entwicklungen sind jedoch ein passender Anlass dafür einen Blick auf die europäische Ebene zu werfen.

Am 15.05.2015 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sein Urteil im Fall Lambert v. Frankreich abgegeben: die Große Kammer des Gerichts entschied mit 12 gegen 5 Stimmen, dass das Urteil des Conseil d’Etat (das oberste Verwaltungsgericht Frankreichs), das die Einstellungen der lebenserhaltenden Maßnahmen für Vincent Lambert für rechtmäßig gehalten hatte, dem Recht auf Leben des Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht widerspricht. Der EGMR betonte, dass es sich beim vorliegenden Fall nicht um Euthanasie handele und dass die einzelnen Staaten in der nationalen Rechtsetzung über einen relativ großen Handlungsspielraum verfügen.

Ob dieses Urteil allerdings tatsächlich zu Fortschritten bei der Sterbehilfedebatte führen wird, ist zweifelhaft. Die Entscheidung des EGMR mag zwar als Wegweiser für nationale Gerichte dienen. Tatsächlich bestätigte der EGMR nur das, was ohnehin in vielen EU-Ländern der aktuellen Rechtslage entspricht.

Der Lambert-Fall

2008 wurde der 38-jährige Vincent Lambert Opfer eines schweren Motorradunfalls und befindet sich nun seit mehr als 7 Jahren in einem vegetativen Zustand im Krankenhaus von Reims (Frankreich). Zwar wird er nicht künstlich durch Maschinen am Leben erhalten. Er ist aber querschnittsgelähmt und muss durch Röhren ernährt werden. Sein Gehirn wurde laut Experten auch extrem geschädigt, sodass jede Kommunikation mit der Außenwelt unmöglich ist. Die Verletzungen sind irreversibel und mittlerweile ist jede Hoffnung geschwunden, dass sich sein Zustand verbessern wird. Der Conseil d’Etat entschied, dass eine Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahmen zulässig wäre.

Dies ist natürlich für die Familie schwer zu akzeptieren und das Schicksal des Sohnes/ Ehemanns/ Bruders führte zur Spaltung der Familienangehörigen. Auf der einen Seite: die Ehefrau von Vincent und 6 seiner Geschwister, die wie die Ärzte auch die Behandlung beenden und ihn „mit Würde“ in den Tod gehen lassen wollen. Andererseits die Eltern und 2 weitere Geschwister, die sich gegen jegliche Sterbehilfe wehren. Vincent liege nicht im Sterben, sondern sei schwerbehindert – seine künstliche Ernährung einzustellen würde zum langsamen Tod durch Verhungern führen, da er noch alleine atmen kann. Deshalb beriefen sich die Eltern vor dem EGMR auch auf Art. 3 EMRK (Folterverbot) und Art. 8 (Achtung des Privat- und Familienlebens) neben Art. 2 EMRK, dem Recht auf Leben. 

Die Entscheidung des EGMR

Der Europäische Gerichtshof hielt die Klage der Eltern im Namen von Vincent Lambert für unzulässig, weil sie keinen sog. locus standi hatten, d.h. dass sie vor dem EGMR nicht im Namen ihres Sohnes klagen durften. Der Klageweg im Namen einer dritten Person steht nur dann offen, wenn die Rechte des Dritten andernfalls nicht effektiv geschützt werden können. Im vorliegenden Fall hätten die Eltern im eigenen Namen zum Schutz ihres Sohnes klagen dürfen.

Der Gerichtshof setzte sich dennoch mit der Frage auseinander, ob die Entscheidung des Conseil d’Etat, das Recht auf Leben des Art.2 EMRK verletze und verneinte dies. Das französische Leonetti-Gesetz zur Sterbehilfe erlaubt es, exzessive und allein der künstlichen Lebenserhaltung dienende Maßnahmen einzustellen, wenn diese eigensinnig und unvernünftig geworden sind. Die Sterbehilfe ist nicht strafbar, wenn das Abstellen der Maschinen nur dem Tod seinen „natürlichen Gang“ wiedergibt. Allerdings darf die medizinische Behandlung nicht einfach gestoppt werden, sondern es muss eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein. Es soll z.B. der (auch implizite) Wille des Patienten berücksichtigt werden und es soll nicht auf unnötige und exzessive Maßnahmen zur künstlichen Lebensverlängerung beharrt werden. Diese Schutzmaßnahmen sind laut EGMR präzise und klar genug, um den Schutz auf Leben des Art. 2 EMRK zu gewähren. Die Entscheidung des Conseil D’Etat zum Leonetti-Gesetz und die konkrete Anwendung im Lambert-Fall hielt das Gericht also für rechtmäßig.

Konsequenzen des Urteils und aktuelle Rechtslage

Die anderen Mitgliedstaaten werden sich nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Lambert-Fall richten und es in den eigenen Nationalgesetzen umsetzen können. Die Entscheidung zur passiven Sterbehilfe ist jedoch nicht bindend und bleibt für die Mitgliedstaaten nur eine Richtlinie. Dies wurde nochmals vom EGMR betont: die einzelnen Länder verfügen, was die Sterbehilfe angeht, über einen weiten Handlungs- und Beurteilungsspielraum.

Schon 2012 hatte sich der EGMR geweigert, im Fall Koch gegen Deutschland materiell über die Problematik der Sterbehilfe zu entscheiden – dies sei Aufgabe der deutschen Gerichte gewesen. Der Beschwerdeführer Ulrich Koch verteidigte die Rechte seiner verstorbenen Frau, die wegen ihrer Schwerbehinderung am Ende ihres Lebens in die Schweiz gezogen war, um dort vom Recht auf einen assistierten Suizid zu profitieren. Herr Koch sah sich in seinen Rechten aus Art. 8 und 13 EMRK verletzt. Der Gerichtshof beschränkte jedoch seine Prüfung auf die prozessualen Fragen, ob Herr Koch überhaupt einen locus standi hatte und ob die deutschen Gerichte den Fall sorgfältig genug geprüft haben.

Der Entscheidungsspielraum der Staaten zum materiellen Recht der Sterbehilfe führt zu relativ großen Disparitäten innerhalb Europas, wie die folgende Übersicht zeigt:

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Das Lambert-Urteil ist also kein bahnbrechendes Urteil. Der EGMR macht zwar nochmals deutlich, dass die passive Sterbehilfe grundsätzlich rechtmäßig ist und diese nicht gegen Art. 2 EMRK verstößt. Die passive Tötung, d.h. das Zulassen des natürlichen Sterbens, ist jedoch schon in den meisten Ländern zulässig.

Ein großer Fortschritt wäre gewesen, im gegebenen Fall die aktive Sterbehilfe vorzuschlagen. Anhaltspunkte für eine Argumentation zugunsten des assistierten Suizids lagen in dem Sachverhalt auch vor: Wird die künstliche Ernährung Vincent Lamberts eingestellt, so wird dieser langsam verhungern. Wäre es dann nicht doch menschlicher, ihm Gift für einen schnellen, schmerzlosen Tod, einzuspritzen? Der Lambert-Fall ist besonders komplex, weil er die Familie des Erkrankten gespalten hat. Was aber, wenn sich alle einig sind, dass der Tod jetzt die beste Option ist? Oder was, wenn eine noch völlig willensfähige Person entscheidet, jetzt ihr Leben zu beenden? Aus welchen Gründen kann der Staat legitimieren zu wissen, was für den Einzelnen, eine so intime und persönliche Entscheidung betreffend, besser ist?

Der Gerichtshof hat im Lambert-Fall nochmals betont, dass das Privatleben und Selbstbestimmungsrecht des Art. 8 EMRK auch bei medizinischen Entscheidungen zu berücksichtigen ist. Vielleicht wäre es also Zeit, die liberaleren Gesetze Belgiens und der Niederlande als Vorbild zu nehmen und dem Individuum das Recht zu Sterben zu gewähren.

Gesetz zur „geschäftsmäßigen Sterbehilfe“

In Deutschland geht die Tendenz jedoch in eine ganz andere Richtung – die Sterbehilfedebatte stagniert, und man könnte das neue Gesetz zum assistierten Suizid sogar als Rückschritt betrachten. Am 06.11.2015 hat der Bundestag, mit 360 gegen 233 Stimmen (und 9 Enthaltungen), den Gesetzentwurf von M. Brand (CDU) und K. Griese (SPD) zur „geschäftsmäßigen Sterbehilfe“ gebilligt.

Das neue Gesetz führt sehr klar zu einer weniger liberalen Rechtslage der Sterbehilfe in Deutschland. Selbstverständlich ist es schwierig, Situationen gesetzlich zu regeln, die oft sehr viele Emotionen auslösen und gar nicht in einigen wenigen Regeln erfasst werden können. Logischer wäre es deshalb, die Entscheidung den betroffenen Menschen in der letzten Lebensphase, im Rahmen einer medizinischen Betreuung und Beratung, zu überlassen.

Ein solcher liberalerer und zeitgemäßerer Gesetzentwurf wurde von den Abgeordneten R. Künast (Die Grünen) und P. Sitte (Die Linke) vorgeschlagen. Zu Recht wies Künast darauf hin, dass man nicht von einem Menschenbild ausgehen sollte, das nur „von fremdbestimmten Menschen ausgeht, die nicht wissen, was sie tun und was für sie gut oder richtig ist“.

Die Menschenwürde des Art. 1 Grundgesetz wäre durch ein solches Gesetz auch nicht beeinträchtigt. Wenn ein Mensch bereit ist zu gehen, so sollte seine Entscheidung und sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK respektiert werden.

Das Thema Sterbehilfe bleibt also oft Tabu – das Wort „Euthanasie“ selbst wird geflissentlich vermieden. Dies liegt einerseits vielleicht daran, dass in Deutschland während des Nationalsozialismus mit Mitteln der Sterbehilfe die systemische Ermordung von ca. 200.000 Menschen stattgefunden hat. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass viele einfach nicht auf die Möglichkeit eines legalen Todes auf Verlangen vorbereitet sind – und sich vor Missbräuchen fürchten. Renate Künast hat während der parlamentarischen Debatten ihre Kollegen gewarnt: mit der gleichen Haltung, die viele im Parlament zur Sterbehilfe eingenommen haben, wäre es nie zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs gekommen.

Wie für den Schwangerschaftsabbruch wird für das Recht auf Sterben gekämpft werden müssen – hoffentlich ist das Gesetz zur geschäftsmäßigen Sterbehilfe nur ein vorläufiger Rückschritt, der sich in der Zukunft verbessern lässt, um den Menschen den gleichen Schutz im Sterben wie auch im Leben zu garantieren.

Stichwort „Sterbehilfe“

Achtung! Zu unterscheiden ist:

Die aktive Sterbehilfe

Direkte Tötung ist in jeden Fällen strafbar, auch wenn sie auf Verlangen oder aus Mitleid durchgeführt wird. Die Tötung auf Verlangen wird in § 216 StGB geregelt.

Die passive Sterbehilfe

Zulassen des natürlichen Sterbens, z.B. Einstellen von zur künstlichen Lebenserhaltung dienende Maßnahmen.

Die indirekte aktive Sterbehilfe

Nicht strafbar – z.B. Verschreibung von Medikamenten, die kurzfristig Schmerzen linder, langfristig aber einen früheren Tod verursachen können.

Du sollst nicht töten
Geschieden, Ostdeutsch, Arm – Altersarmut bei Frauen