Eigentlich freuen wir uns über eine Selbstverständlichkeit. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 25. Juli 2017 entschieden, dass das Oberste Verwaltungsgericht Portugals bei der Würdigung eines Rechtsstreits um Schadensersatz nach einer missglückten Operation auf diskriminierende Erwägungen zurückgegriffen habe. Damit hat Portugal nach Auffassung des Gerichtshofs gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in Verbindung mit Art. 8 EMRK verstoßen.
Der EGMR übernimmt mit seinem Urteil auch die Rolle eines Patriarchatsbekämpfers und erklärt die stereotypisierende und aus der Zeit gefallene „Argumentation“ des portugiesischen Gerichts für rechtswidrig. Dass er im Verhältnis von Stereotyp und Diskriminierung ein antidiskriminierungsrechtliches Novum schafft, merkt er aber anscheinend gar nicht.
Unverständliche „Argumentation“ des Obersten Verwaltungsgerichts Portugals
Die damals fünfzigjährige und unter einer Vaginalerkrankung leidende Klägerin Carvalho Pinto de Sousa Morais unterzog sich im Mai 1995 im staatlichen Lissaboner Zentralkrankenhaus einer Operation. Sie ist aufgrund eines ärztlichen Kunstfehlers seitdem inkontinent. Starke Schmerzen bereiten ihr Schwierigkeiten beim Laufen und Sitzen. Ihre Sexualität kann sie nicht mehr ausleben. Im April 2000 forderte die Klägerin vor dem Verwaltungsgericht Lissabon Schadensersatz aus dem portugiesischen Staatshaftungsgesetz. Dieser wurde ihr im Oktober 2013 zugesprochen, ein Jahr später aber durch das Oberste Verwaltungsgericht deutlich reduziert. So sei die Finanzierung einer ganztägigen Haushaltshilfe unter anderem deshalb nicht vonnöten, weil sich die Klägerin im Hausalltag – ihre Kinder sind bereits erwachsen – nur um ihren Ehemann kümmern müsse. Der immaterielle Schaden sei deshalb nicht groß, weil sie zum Zeitpunkt der Operation bereits fünfzig Jahre alt gewesen sei und zwei Kinder gehabt habe. Geschlechtsverkehr sei zu diesem Zeitpunkt also ohnehin nicht mehr wichtig.
Keine Vergleichsgruppenbildung bei Stereotypisierung
Carvalho Pinto de Sousa Morais rief im April 2015 den EGMR an. Fünf der sieben an der Entscheidung beteiligten Richter_innen folgten ihrer Argumentation: Alter und Geschlecht dürften bei der Ermittlung von Schadenshöhen nicht ausgeblendet werden. Im vorliegenden Fall seien sie unzulässig für Generalisierungen und Spekulationen genutzt worden.
Bisher griff der EGMR auf eine Case-Law-Vergleichsgruppenbildung zurück, um zu prüfen, ob eine Behandlung das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK verletzt. Die Klägerin hätte dann darlegen müssen, dass Angehörige anderer Gruppen in Bezug auf Forderungen vergleichbarer Art in einer vergleichbaren Situation ungerechtfertigt besser behandelt werden. Tatsächlich werden am Ende des Mehrheitsvotums die Fälle zweier portugiesischer Männer im Alter von 55 und 59 Jahren benannt, die infolge missglückter Eingriffe impotent sind – und deren Leiden nicht in Hinblick auf ihr Alter relativiert wurde. Die Straßburger Richter_innen wollen diese Fälle – wegen der schwierigen Vergleichbarkeit von Schadensersatzfällen – nicht zur Begründung dafür nutzen, dass Art. 14 EMRK einschlägig ist. Sie verwenden sie daher, um Stereotypisierungsvorwürfe zweier Berichte[1] an Teile der portugiesischen Justiz zu betonen. Bei nur zwei im Ansatz zum Vergleich geeigneten Fällen wird ohnehin kaum von „case law“ die Rede sein können, wie die Richter Ravarani und Bošnjak in ihrem abweichenden Sondervotum nachvollziehbar darlegen.
Wenn Ravarani und Bošnjak jedoch behaupten, es habe keine Diskriminierung im bisher anerkannten Sinne gegeben und angesichts der Komplexität und Standortgebundenheit von Schadensersatzfragen auf das Subsidiaritätsprinzip hinweisen, unterschätzen sie die gesellschaftliche Wirkmächtigkeit von (impliziten) Stereotypen in Gerichtsentscheidungen. Wenn Rechtsprechende Schubladendenken und Rollenzuschreibungen in ihren Beschlüssen offen ausleben, perpetuieren sie diese. Dass es überhaupt Menschen gibt, die der Frau noch immer die Rolle der Geburtsmaschine und ewigen Haushälterin zuschreiben, ist ärgerlich genug. Greift die Justiz aber dieses skurrile Denken auf, wird es verrechtlicht – zwar nicht legitim, aber doch legal anerkannt. Die „Argumente“ aus Portugal können im Ergebnis nur unzulässig sein.
Stereotype – und der notwendige Bogen zur Diskriminierung
Nach der von Cook und Cusack vorgeschlagenen Definition sind Stereotype generalisierende Eigenschaften, die Menschen Angehörigen einer Gruppe vorschnell zuschreiben. Die Ausführungen des portugiesischen Gerichts fallen problemlos darunter. Stereotype wurden bisher mehrfach in EGMR-Entscheidungen behandelt, aber nie als eine den diskriminierenden Umstand erzeugende Dynamik anerkannt (zum Beispiel Marckx v. Belgien). Einen Meilenstein bildete Markin v. Russland, als der EGMR entschied, dass Ungleichbehandlungen nicht durch stereotypisierende Erwägungen gerechtfertigt werden können.
Richterin Motoc stellt in ihrem Sondervotum richtig fest, dass eine Vergleichsgruppenbildung in Fällen der Stereotypisierung sinnlos ist. Das Mehrheitsvotum brach mit bisherigen Prinzipien und sah in den Stereotypen der portugiesischen Richter_innen selbst das diskriminierende Moment. Dieser Entschluss ist richtig. Stereotype sprechen dem Individuum die Persönlichkeitsautonomie nicht erst relativ zu anderen Fällen oder Personengruppen, sondern absolut ab. Es muss – abstrakt formuliert – ausreichen, dass ein Mensch einer Gruppe zugeordnet wird und dieser vorschnell Eigenschaften zugeschrieben werden, die objektiv-generell nicht zutreffen. Unterstellt ein Gericht aus einem patriarchalischen Weltbild heraus, dass Frauen sich im Hausalltag um ihre Ehemänner kümmern müssten und die weibliche Sexualität nur zum Kinderkriegen vorgesehen sei, stereotypisiert es. Ein Schritt weiter: Trifft es darauffolgend eine rechtsbindende Entscheidung, dürfte die Prima-facie-Annahme, dass die Stereotype (mindestens in Teilen) auch die Entscheidung selbst geprägt haben, gerechtfertigt sein.
EGMR verliert den Überblick
Die Entscheidung des EGMR ist im Ergebnis richtig, die Argumentation der Mehrheitsentscheidung jedoch zu schwach. Das zeigt sich bereits darin, dass die Richter_innen vermeintliche Vergleichsfälle ausführlich beschreiben, obwohl sie kein „case law“ betreiben möchten – und müssen. Dass der EGMR mit seiner bisherigen Rechtsprechung zu Stereotypen bricht, wird nicht einmal angedeutet. Die in den zustimmenden Sondervoten der Richterinnen Yudkivska und Motoc vorgenommenen Begründungsversuche (Transformative Equality, Gender Role Stereotype) sind wichtig, greifen im direkten Vergleich zum gut strukturierten Mindervotum aber zu kurz. Auf die festgestellte Altersdiskriminierung ging das Gericht fast gar nicht ein.
Die Richtung stimmt!
Der Fall fasst wichtige Fragen des Antidiskriminierungsrechts zusammen: Erkennung der mehrdimensionalen Diskriminierung (Intersektionalität), Einbeziehung internationaler Menschenrechtsquellen, Nutzung des offenen Kategorisierungskatalogs des Art. 14 EMRK, Rückgriff auf antidiskriminierungsrechtliche Literatur, Beweis der Wichtigkeit der Richter_innenbefähigung. Diskriminierungsrechtliche Erkenntnisse werden so relevanter für die Rechtsprechung, Forschungsergebnisse kommen praktisch zum Einsatz. Das ist gut so.
Dort, wo aber neue Problematiken – hier: Stereotype unter Richter_innen – auftreten, droht eine aufgrund von Zweifeln oder fehlenden Mutes zu kurz geratene Lösung rechtsdogmatisch unvollständig zu wirken. Die wichtige Rolle des EGMR als Korrekturinstanz wurde zwar verfestigt. Dem Gerichtshof ist aber zu raten, seine Vorgehensweise in Fällen von Stereotypen, Stigmata, der institutionellen Diskriminierung auf ein festeres Fundament zu stellen. Die Richtung jedenfalls stimmt.
[1] Lesenswert: Bericht der Sonderberichterstatterin des UN-Menschenrechtsrates zur Unabhängigkeit der Richter und Anwälte (hier) und Bericht des Komitees der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW, hier).