Enttäuschung und Wut angesichts des Urteils im NSU-Prozess

Nach über fünf Jahren Prozess und fast 440 Prozesstagen wurde am 11. Juli 2018 am Oberlandesgericht München das Urteil im NSU-Prozess verkündet. Dieses Urteil ist im Hinblick auf die 2012 von Bundeskanzlerin Merkel versprochene „lückenlose Aufklärung“ eine Enttäuschung und soll einen Schlussstrich unter den NSU-Komplex ziehen. Unter dem Motto „Kein Schlussstrich!“ fand vor dem Gericht eine ganztägige Kundgebung sowie eine Demonstration am Abend statt.

Das Urteil im Detail

Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe wurde der Mittäter*innenschaft an zehn Morden, 43 versuchten Morden, zwei schweren Sprengstoffanschlägen und 15 Bank- und Raubüber­fällen für schuldig befunden und zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt. Das Gericht bejahte erwartungsgemäß eine „besondere Schwere der Schuld“. Anders als bei „lebenslang“ wird Beate Zschäpe deshalb nicht nach 15 Jahren Haft entlassen werden.

Die Urteile für den wegen der Beschaffung der Tatwaffe angeklagten Ralf Wohlleben und der wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, der Beihilfe zum versuchten Mord und des Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion angeklagte André Eminger blieben deutlich hinter den Forderungen der Bundesanwaltschaft zurück. Ralf Wohlleben wurde wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen zu zehn Jahren Haft verurteilt. André Eminger war einer der engsten Vertrauten und Unterstützer des NSU-Kerntrios und saß, obwohl er seine Sympathien zur rechten Szene kontinuierlich zur Schau stellte, erst seit Sommer 2017 in Untersuchungshaft. Er wurde „nur“ wegen Unterstützung der terroristischen Vereinigung zu zweieinhalb Jahren Haft verur­teilt. Weitere Anklagepunkte gegen ihn, wie Beihilfe zum versuchten Mord, wurden fallen gelassen. André Eminger wurde am Tag der Urteilsverkündung aus der Haft entlassen, Ralf Wohllebens Antrag auf Freilassung wurde kurz darauf am 17. Juli stattgegeben.

Schwer nachvollziehbar ist im Vergleich dazu die Haftstrafe von drei Jahren für Carsten Schultze, der als einziger der Angeklagten umfänglich geständig und kooperativ war und zudem nach Jugendstrafrecht verurteilt wurde. Der Angeklagte Holger Gerlach wurde wegen der ihm vorgeworfenen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung ebenfalls zu drei Jahren verurteilt.

Vertreter*innen der Nebenklage äußerten sich angesichts dessen deutlich: „Wir sind nicht nur enttäuscht, sondern auch wütend über das Urteil. Nicht nur, weil die Angeklagten Eminger und Wohlleben deutlich niedrigere Strafen erhalten haben, als es die Bundesanwaltschaft gefordert hatte. Viel schlimmer ist für die Nebenkläger*innen, dass das Urteil ein Schlussstrich sein will.“

Was bedeuten das Ende des Prozesses und das Urteil konkret?

Der 6. Staatschutzsenat ist mit dem Urteil grundsätzlich der Anklage der Bundesanwaltschaft gefolgt. In der Anklage hatte sich die Bundesanwaltschaft bereits darauf festgelegt, dass es sich bei dem NSU um ein „isoliertes“ Trio handele, das selbst von der militanten Naziszene abgekapselt gewesen sei. Laut Bundesanwaltschaft habe es nur wenige Unterstützende und Mitwissende gegeben und diese seien auch im NSU-Prozess angeklagt worden. Diese These vom NSU als isoliert handelndem „Trio“ ist allerdings durch die Beweisaufnahme im Prozess selbst sowie die Erkenntnisse aus den Untersuchungsausschüssen zum NSU widerlegt worden. Unter anderem kam der Vorsitzende des zweiten parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Bundestages Clemens Binninger zu dem Schluss, dass es weitere Mittäter*innen und Unterstützer*innen gegeben haben muss.

Im ganzen Verfahren zeigten sich verschiedene strukturelle Leerstellen, die auch auf die Engführung des NSU-Komplex in der Anklage zurückzuführen sind. Bereits zu Beginn des Verfahrens wurde der Verhandlungsgegenstand des Prozesses derart eng definiert, dass eine Thematisierung brisanter und bis heute offener Fragen im Prozess, wie z.B. zur Rolle und dem Wissen der staatlichen Sicherheitsbehörden über den NSU sowie Helfer*innen an den jeweiligen Tatorten, verunmöglicht wurde.

Zur Vermeidung der weiteren Aufklärung dieser Fragen hat auch die Rolle der Bundesanwaltschaft beigetragen. Als oberste Anklagebehörde der Bundesrepublik Deutschland zählt es zu ihren Aufgaben, die Staatsräson der BRD zu schützen. Der Generalbundesanwalt als Leiter der Bundesanwaltschaft ist dem Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz gegenüber weisungsgebunden. Dadurch entsteht an dieser Stelle ein politisches Einfallstor, durch das die Bundesanwaltschaft als sogenannte Herrin des Ermittlungsverfahrens in ihren Ermittlungsaufgaben einschränkt werden kann. Darin liegt eine der zentralen rechtstaatlichen Schwächen, die sich in den Ermittlungen sowie dem Prozess abgebildet haben.

Eine weitere Leerstelle des Prozesses ist das Ausblenden des Netzwerks des NSU. Die Ämter für Verfassungsschutz führten mehr als 40 V-Personen im Netzwerk und Umfeld des NSU. Teile der Akten zu eben diesen V-Personen wurden von Mitarbeiter*innen der Ämter für Verfassungsschutz nach Bekanntwerden des NSU bereits im November 2011 vernichtet. Zentrale Fragen zu staatlichen Erkenntnissen über den NSU sowie die Verstrickung staatlicher Behörden in den NSU-Komplex wurden im Prozess nicht verhandelt.

Ebenfalls nicht thematisiert wurde das Thema des institutionellen Rassismus, der in den Strafverfolgungsbehörden vorherrschte – die Hinterbliebenen und Betroffenen der Verbrechen des NSU wurden jahrelang rassistisch kriminalisiert. Die Sonderkommissionen hießen »Halbmond« oder »Bosporus« und ihre Ermittlungen richteten sich gegen die Familien und konzentrierten sich ohne Hinweise auf den Bereich der Organisierten Kriminalität. Zur Klärung der Straftaten wurde gerade nicht „in alle Richtungen“ ermittelt und Hinweisen auf ein mögliches rassistisches Tatmotiv und Beschreibungen der Täter nicht nachgegangen.

Mit dem Urteil wird nun unter allen Umständen versucht, entgegen der heutigen Erkenntnisse über den NSU-Komplex die These des „isoliert handelnden Trios“ aufrechtzuerhalten, wie Vertreter*innen der Nebenklage bereits während der Urteilsverkündung auf der Kundgebung kritisierten. Hätte das Gericht höhere Haftstrafen ausgesprochen, hätte es damit auch anerkennen müssen, dass es ein größeres NSU-Netzwerk gab bzw. gibt.

Wie geht es weiter?

Für die Angehörigen der Ermordeten und Betroffenen ist dieses Urteil ein weiterer Schlag ins Gesicht. Auch nach dem Prozess fragen sie heute, warum ihr Mann, ihr Bruder, ihr Vater ermordet wurden.

Mit diesem Urteil ist auch zu befürchten, dass die von der Bundesanwaltschaft parallel zum NSU-Prozess geführten neun Ermittlungsverfahren gegen weitere Personen sowie ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren gegen Unbekannt ohne eine Anklageerhebung eingestellt werden. Mit Bestätigung der Trio-These durch das Urteil scheint dies nur ein nächster konsequenter Schritt im Sinne eines Schlussstrichs zu sein.

Während der Urteilsverkündung ereigneten sich zwei Vorfälle, die als bezeichnend für das ganze Verfahren angesehen werden können: Als das äußerst milde Urteil für André Eminger verkündet wurde, applaudierten die im Gerichtssaal anwesenden Nazis selbstbewusst und ohne vom Vorsitzenden Richter Manfred Götzl ermahnt zu werden. Mit ihrem Applaus haben sie verdeutlicht, dass sie das Urteil als eine Aufforderung an die Naziszene verstehen. İsmail Yozgat hingegen, der bei Schilderungen zu dem Mord an seinem Sohn Halit in verzweifelte Rufe ausbrach, wurde von Götzl unter Androhung weiterer Maßnahmen sofort scharf zur Ordnung gerufen.

Auch angesichts des gegenwärtigen alarmierenden gesellschaftlichen Rechtsrucks ist das milde Urteil ein fatales Signal. Im Kampf um Aufklärung und Aufarbeitung des NSU-Komplex kann das Urteil allenfalls ein Zwischenschritt sein. Verschiedene Nebenkläger*innen, wie die Familie Yozgat, haben bereits im Vorhinein deutlich gemacht, dass sie das Urteil des Prozesses nicht anerkennen werden. Nebenklagevertreter*innen reagierten nach dem Urteil unmittelbar mit Forderungen: die richtungsweisende Ermittlungslinie vom NSU als isoliert handelndem Trio müsse aufgegeben werden, die Erkenntnisse der Geheimdienste zum NSU offengelegt sowie ein neues Vernichtungsmoratorium aller Akten und Beweismittel mit potentiellem Bezug zum NSU ausgesprochen werden. Die geschlossene und starke Demonstration am Abend des 11. Juli durch München sowie die bundesweit über 10.000 Demonstrierenden sind ein wichtiges Signal dafür, dass der Kampf um eine tatsächlich lückenlose Aufklärung weitergeht.

Presseerklärung der Nebenklagevertreter*innen zum Ende des NSU-Verfahrens.

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