Immer noch keine unterstützende Entscheidungsfindung – Berlin muss jetzt handeln!

Das Betreuungsrecht in Deutschland nimmt die Fähigkeit von Menschen mit Behinderungen, ihre Bedürfnisse selbst zu artikulieren, immer noch nicht ernst. Betreuer*innen können die Angelegenheiten von Menschen mit Lerneinschränkungenimmer noch allein führen, ohne die Betroffenen ernsthaft beteiligen zu müssen. Kritik kommt auch von Richter*innen aus diesem Fachgebiet. Sie fordern seit Jahren grundlegende Änderungen
Es ist an der Zeit, dass im Betreuungsrecht das Prinzip der unterstützenden Entscheidungsfindung konsequent verankert wird.

Verkehrsschutz und Paternalismus prägen das deutsche Betreuungsrecht

Das bürgerliche Recht ist maßgeblich vom Gedanken des Verkehrsschutzes geleitet. Um Menschen ohne Behinderung gar nicht erst mit den unterstellt irrationalen Entscheidungen von Menschen mit Behinderung zu konfrontieren, können Betreuer*innen umfassend über die Rechte des betreuten Menschen mit Behinderung verfügen. Menschen mit Behinderung wird meist abgesprochen, überhaupt einen „freien Willen“ bilden zu können. An die Stelle der Entscheidung der betroffenen Person tritt die Entscheidung von Betreuer*innen, die vom vermeintlich objektiven Wohl des Menschen mit Behinderung geleitet sind. Es erscheint jedoch recht fragwürdig, ob ein solches Wohl denn überhaupt objektivierbar ist oder sich dahinter nicht etwa die ganz und gar subjektive Überzeugung der Personen verbirgt, die befugt sind, über das Wohl des behinderten Menschen rechtserheblich zu entscheiden. Dies betrifft neben Betreuer*innen auch Richter*innen.
Das bürgerliche Recht bleibt somit bis heute vertretungsorientiert. Wie Menschen mit Behinderung auch bei den Entscheidungen, die sie betreffen, angemessen berücksichtigt werden, ist in der deutschen Rechtspolitik leider immer noch eine Randfrage. Dieser Zustand ist inakzeptabel.

Das Völkerrecht macht deutliche Vorgaben

Der General Comment zum Art. 12 der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK)fordert, das Betreuungsrecht am Prinzip des „supported decision making“ zu orientieren. Diese unterstützende Entscheidungsfindung stellt die Wünsche, Präferenzen und Prioritäten des behinderten Menschen in den Mittelpunkt. Sie steht damit der ersetzenden Entscheidungsfindung gegenüber, in deren Tradition das deutsche Recht steht. Dieses „substitute decision making“ entzieht der betroffenen Person die Entscheidungsfähigkeit. Weil die Autonomie von Menschen mit Behinderung im deutschen Betreuungsrecht derart vernachlässigt wird, hat der UN-Fachausschuss zur BRK erhebliche Bedenken geäußert, ob das deutsche Betreuungsrecht mit der Behindertenrechtskonvention vereinbar ist.

Wir brauchen klare Bedingungen

Betreuung ist parteiische Interessenvertretung. Deshalb sollte auch diejenige Person im Mittelpunkt stehen, in deren Interesse gehandelt wird. Niemand außer der behinderten Person selbst kann feststellen, welche Prioritäten sie tatsächlich hat. Das sollte der erste Ansatzpunkt einer gemeinsamen Entscheidungsfindung sein. Um die Wünsche eines Menschen mit Lernschwierigkeiten zu ergründen, braucht es keine sokratische Mäeutik, sondern schlicht mehr Geduld und Zeit für klärende Gespräche. Dies zu gewährleisten bedeutet einen Mehraufwand für Betreuer*innen. Sie brauchen deshalb feste Qualitätsstandards, Leitfäden und klare rechtliche Bedingungen für die gemeinsamen Entscheidungsprozesse. So wäre es für sie leichter, die subjektiven Interessen des behinderten Menschen als Ausgangspunkt der Entscheidung zu nutzen und passende Handlungsmöglichkeiten zu vermitteln. Eine Begleitungshilfe für Betreuer*innen bei der unterstützenden Entscheidungsfindung würde auch dem Einwand begegnen, dass für klärende Gespräche die Zeit fehle – eine Begründung die 40 % der beruflichen Betreuer mindestens „oft“ und 68 Prozent mindestens „manchmal“ als Versagungsgrund der unterstützenden Entscheidungsfindung anführen.

Was nun getan werden muss

Der Richter Ulrich Engelfried fordert in seinem Beitrag zur unterstützenden Entscheidungsfindung einen gesellschaftlichen Diskurs über das Zusammenleben mit kranken und behinderten Menschen. Der Schritt in die Öffentlichkeit ist wichtig, es müssen darauf aber auch rechtliche Änderungen folgen. Das Betreuungsrecht in Deutschland muss konsequent anhand der UN-Behindertenrechtskonvention modernisiert werden. Dafür ist eine rechtswissenschaftliche Debatte unabdingbar, die behinderte Menschen und deren Selbstorganisationen ernsthaft beteiligt. Auch muss die Gesetzgebung die Erkenntnisse der Psychologie und Soziologie zur Grundlage einer Neugestaltung des Betreuungsrechts machen, damit Rechtsbegriffe nicht länger Raum für Stereotype geben.

Die unterstützende Entscheidungsfindung einzuführen, ist in Deutschland längst überfällig. Der UN-Fachausschuss über die Rechte von Menschen mit Behinderungen fordert das schon seit 2015. Wenn sich die Bundesgesetzgebung dagegen verweigert, verstößt sie gegen das Völkerrecht. Es ist daher dringend an der Zeit, zu handeln!

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