Das ECCHR hat mit Unterstützung einiger seiner Partnerorganisationen die Bayer AG und die Bayer CropScience AG wegen deren Geschäftspraktiken in Indien bei der Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen angezeigt. Das Vorgehen ist wichtig, um den „Accountability Gap“ auch im Bereich des Exports von Pestiziden offenzulegen – und zukünftig möglichst zu schließen. Mit juristischen Mitteln allein lässt sich das Problem jedoch nicht lösen.
Geschichten über Menschenrechtsverletzungen durch transnationale Konzerne in Ländern des Globalen Südens gibt es viele. Sie eröffnen den Blick auf ein Problem der globalisierten Wirtschaft, das sich unter dem Stichwort „Accountability Gap“ zusammenfassen lässt. Verletzt das Geschäftsverhalten eines transnationalen Unternehmens in Ländern des Globalen Südens die Menschenrechte, wird es vor Ort bisher in den seltensten Fällen dafür belangt. Ebenso wenig findet eine juristische Aufarbeitung am Hauptsitz des Unternehmens statt. Im Ergebnis bleibt die konkrete Verletzung folgenlos. Dies ist das Phänomen des „Accountability Gap“, der Haftungslücke.
In dem Fall, der nun die Landwirtschaftskammer NRW beschäftigt, geht es um die Gefahrenkennzeichnung auf dem Pestizid Nativo 75 WG. Das Pflanzenschutzmittel wird von Bayer über Tochterunternehmen wie die Bayer CropScience AG unter anderem in Großbritannien und Indien vertrieben. Während das in Europa erhältliche Produkt jedoch mit dem Hinweis versehen ist, dass dieses sich schädigend auf das ungeborene Kind auswirken kann, fehlt ein solcher Vermerk auf der Verpackung des in Indien vermarkteten Mittels. Ebenso wenig finden sich dort Hinweise zu Anwendung, Vergiftungssymptomen, Erster Hilfe, notwendiger Schutzausrüstung oder fachgerechter Entsorgung. Eine Kennzeichnungspflicht für potenziell gesundheits- oder umweltschädigende Stoffe besteht aber sowohl in Europa als auch in Indien. Nach dem deutschen Pflanzenschutzgesetz sind die entsprechenden Warnhinweise beim Export der Produkte ebenfalls Pflicht und die Behörden dafür zuständig, deren Einhaltung zu kontrollieren. Kommt die im Falle Bayers zuständige Landwirtschaftskammer NRW zu dem Schluss, dass das Unternehmen die nationalen Exportregeln verletzt hat, reichen die möglichen Konsequenzen bis zum Exportverbot für Nativo.
Doppelstandards nicht nur bei Bayer
Derartige Doppelstandards bei der Vermarktung von Pflanzenschutzmitteln sind kein Alleinstellungsmerkmal von Bayer. Auch andere Agrarkonzerne vertreiben in Ländern des Globalen Südens Produkte, die sie in ihrem Heimatland in dieser Form nicht anbieten dürften – sei es, weil die Gefahrenkennzeichnung unvollständig ist oder weil nicht sichergestellt wird, dass die Anwender*innen im Umgang mit dem Pestizid geschult sind und über Schutzkleidung verfügen. Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln wird so zum unkalkulierbaren Risiko für Mensch und Umwelt. Solange die Unternehmen aber keine ernsthaften Konsequenzen für ihr Vorgehen befürchten müssen, besteht wenig Anreiz, das Geschäftsmodell zu ändern.
Dieses Verhalten der Agrarkonzerne – und „Agrarkonzern“ ließe sich problemlos durch „Textilunternehmen“ oder „Lebensmittelkonzern“ ersetzen – erscheint zwar als moralisch und rechtlich verurteilenswert. Allein, aus ökonomischer Perspektive ergibt es durchaus Sinn. Zumindest bis der gute Ruf dahin ist, und selbst dann kann ein Unternehmen noch florieren, wie das Beispiel Monsanto beweist. Es gilt also, dem Handeln der Konzerne Grenzen zu setzen. Dies kann durch eine wirksame Verpflichtung der Unternehmen auf menschenrechtliche Standards geschehen, wie sie beispielsweise in den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte angestrebt wird. Solche Anstrengungen sind vergleichsweise neu und eine unmittelbare Reaktion auf die sich verschärfende Problematik des „Accountability Gap“. Demgegenüber mutet es schon fast anachronistisch an, Staaten dazu bewegen zu wollen, ihre Menschenrechtsverpflichtungen einzuhalten. Und doch kann eine solche Herangehensweise die Haftungslücke unter Umständen nachhaltiger schließen als die Verpflichtung der Wirtschaft.
Die Vertragsstaaten, das schlafende Dornröschen
Würden bereits existierende Menschenrechtskonventionen konsequent in nationales Recht umgesetzt, gäbe es keinen Diskussionsbedarf über eine unmittelbare Verpflichtung von privatwirtschaftlichen Unternehmen. Allein der Zivil- und der Sozialpakt der Vereinten Nationen enthalten einen ganzen Strauß an Menschenrechten, an deren Wahrung in Konstellationen wie jener im Fall Nativo gezweifelt werden könnte. Die konkreten Pflichten der Vertragsstaaten einer internationalen Menschenrechtskonvention werden aus der Trias „respektieren, schützen, tätig werden“ abgeleitet. Der Staat darf die Menschenrechte demnach nicht nur nicht selbst verletzen, sondern muss auch dafür sorgen, dass die nationale Rechtslage keine solchen Verletzungen durch Dritte zulässt. Im Fall Nativo würde das bedeuten, dass sowohl die deutschen als auch die indischen Behörden stärker auf die Einhaltung der nach den jeweiligen Pflanzenschutzgesetzen erforderlichen Kennzeichnungspflichten achten müssten. Diese Kennzeichnungen müssten ihrerseits wiederum menschenrechtlichen Standards entsprechen.
In der Realität bleiben die staatlichen Aktivitäten dagegen oft hinter den vertraglichen Verpflichtungen zurück. Oftmals kollidieren diese Pflichten mit den wirtschaftlichen Interessen der Staaten, ein für ausländische Investitionen möglichst günstiges Umfeld zu schaffen. Das für Unternehmen günstigste Umfeld ist jedoch selten dasjenige mit den höchsten Menschenrechtsstandards. Ebenso liegt es im staatlichen Interesse, dass Landwirt*innen Zugang zu den Mitteln der modernen Landwirtschaft haben, um mit ihren Produkten auf dem globalen Markt bestehen zu können.
Diesen Mechanismen etwas entgegenzusetzen, ist also primär eine rechtspolitische Aufgabe. Zwar müssen angesichts der immer größer werdenden Marktmacht einiger Unternehmen neue Regeln aufgestellt und ein gemeinsamer Nenner gefunden werden. Doch sind Selbstverpflichtungen von Konzernen bisher nicht ebenso rechtlich verbindlich wie die Menschenrechtsverpflichtungen von Staaten. Um die Missachtung von Menschenrechten durch Unternehmen effektiv zu ahnden, braucht es einen größeren politischen Willen sowohl in Ländern des Globalen Südens wie des Globalen Nordens, die einschlägigen Konventionen umzusetzen, sowie eine starke Zivilgesellschaft. Der kürzlich vom Bundeskabinett verabschiedete Nationale Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte lässt einen entsprechenden Willen zwar erkennen, doch bleibt der Plan deutlich hinter den Erwartungen zurück. Und auch das Zusatzprotokoll zum Sozialpakt wurde als eines der wenigen Zusatzprotokolle der UN-Konventionen bisher nicht von der Bundesregierung ratifiziert und umgesetzt. An der Kooperation der einzelnen gesellschaftlichen und politischen Akteure wird sich letztendlich entscheiden, wie effektiv die Menschenrechte auch gegenüber transnationalen Konzernen gewahrt werden können.