Auch beim Frauen*streik tanzt die Schweiz in guter Tradition aus der Reihe: Nicht am 8. März, dem Internationalen Frauentag, sondern heute, am 14. Juni, streiken die Frauen*. Die Kritik bleibt die gleiche: Für die gleiche Arbeit erhalten Frauen weniger Lohn als Männer.Berufe, in denen überwiegend Frauen arbeiten, werden besonders schlecht bezahlt. Frauen sind öfter Opfer von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Und der Großteil der Sorgearbeit wird unbezahlt von Frauen geleistet. Doch einer verbreiteten juristischen Meinung zufolge stellen die genannten Umstände keine legalen Streikgründe dar – jedenfalls nicht in Deutschland. Warum?
„Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. […] Maßnahmen […] dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden“, so lautet Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG). Neben der Koalitionsfreiheit schützt das Grundrecht somit die Freiheit des Arbeitskampfes, dessen meist gewählte Form der Streik ist. Die Rechtsprechung leitet aus dem Normtext ab, dass nur Gewerkschaften einen rechtmäßigen Streik ausrufen können und dieser sich auf den Abschluss eines Tarifvertrages richten muss. Im Umkehrschluss: Hat der Streik gesellschaftliche Verhältnisse zum Gegenstand, ist er rechtswidrig. Ein Streik gegen die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern zum Beispiel wäre rechtswidrig. Denn dieser Streik wäre ein „politischer“ Streik.
Die Bedingungen der Arbeit lassen sich jedoch nicht von den gesellschaftlichen Verhältnissen isoliert betrachten. So spielt zum Beispiel Sexismus im Arbeitsumfeld eine große Rolle, wie die Kritik des Frauen*streiks aufzeigt. Auch die spezifische Situation von Migrant*innen auf dem Arbeitsmarkt wird ausgeblendet. Ausländische Berufsabschlüsse werden nicht anerkannt, alltägliche rassistische Diskriminierung im Job und Personen mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus bleibt oft nur die Anstellung in illegalisierten Arbeitsverhältnissen. Die genannten Umstände prägen das Arbeitsumfeld maßgeblich und sind doch – gemäß der verbreiteten Rechtsauffassung – keine Streikgründe. Daneben haben Menschen, die selbstständig arbeiten oder unbezahlte Arbeit in Form von Pflege-, Betreuungs- und Hausarbeiten verrichten, überhaupt kein Recht auf Streik.
Ein Blick in das internationale Recht lohnt sich
Kaum ein anderes europäisches Land hat eine so restriktive Definition des Streikbegriffes wie Deutschland. Nur in Österreich und Großbritannien ist der politische Streik ebenfalls allegalisiert. Damit steht die deutsche Rechtslage in offenem Widerspruch zu unterschiedlichen völkerrechtlichen Normen.
So heißt es in Art. 23 Abs. 3, 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen: „(3) Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen. (4) Jeder hat das Recht, zum Schutze seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.“ Die Verengung eines Streiks auf tarifpolitische Ziele würde den „Schutz der eigenen Interessen“ aushebeln und die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen ein Lohn entsteht, ausblenden. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen ist zwar kein rechtsverbindliches Dokument, die politische und moralische Strahlkraft ist jedoch nicht zu unterschätzen.
Rechtlich bindend dagegen sind die Übereinkommen der International Labour Organization(ILO), die als UN-Sonderorganisation mit Regierungen, Gewerkschaften und Arbeitgebendenverbänden internationale Sozial- und Arbeitsstandards entwickelt. Das Übereinkommen 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes, das Deutschland 1957 ratifiziert hat, verbürgt wichtige arbeitsrechtliche Grundsätze und schützt das daraus abgeleitete Streikrecht. Gemäß des Sachverständigenausschusses der ILO beschränke sich das in Rede stehende Streikrecht gerade nicht nur darauf, bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen, sondern umfasse gleichermaßen Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die Arbeitnehmer*innen berühren.
Auch regionales Völkerrecht steht der restriktiven Auslegung des deutschen Streikrechts entgegen: Art. 6 der Europäischen Sozialcharta (ESC), ein vom Europarat initiiertes und völkerrechtlich verbindliches Abkommen, macht konkrete Vorgaben, um die „wirksame Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten“. Unter anderem verpflichten sich die Vertragsparteien gemäß Art. 6 Abs. 4 ESC „das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Fall von Interessenkonflikten“ anzuerkennen. Diese Formulierung wird in Bezug auf den politischen Streik weder eingeschränkt noch offen gelassen. Das Ministerkomitee des Europarates hat Deutschland sogar 1998 wegen des gewerkschaftlichen Streikmonopols und des Verbots politischer Streiks gerügt. Der Gesetzgeber hat darauf nicht reagiert.
Warum es ein Recht auf politischen Streik braucht
Die restriktive Auslegung des Streikrechts in Deutschland verstößt gegen internationales Recht. Es stellt Menschen schutzlos, die nicht im Rahmen von Tarifverhandlungen streiken. Es stellt Menschen schutzlos, die die Reproduktion diskriminierender Strukturen in ihren Arbeitsplatz in einem Streik anprangern. Es stellt Menschen schutzlos, die nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis beschäftigt sind und dennoch streiken. In anderen Worten: Es nimmt Menschen eine Möglichkeit, kollektiv auf Missstände aufmerksam zu machen, und ein Mittel, Druck auf Unternehmen und politische Entscheidungsträger*innen auszuüben. Das Streikrecht ist Ausdruck wirtschaftlicher und politischer Macht.
Es muss verfassungsrechtlich klargestellt werden, dass auch ein politischer Streik ein Streik im Sinne des Grundgesetzes ist. Die Forderungen eines Streiks sollten sich nicht nur auf die Höhe des Lohns und die sonstigen Inhalte des Tarifvertrages beschränken müssen. Schließlich sind es viel grundsätzlichere, gesellschaftliche und politische Fragen, die die Qualität unseres Arbeitsplatzes bestimmen. Die Frage, wer, wie und wo unter welchen Bedingungen arbeitet, muss wieder politisiert werden. Um das zu tun, braucht es ein Recht auf politischen Streik.
[*] Der Begriff „Frau“ ist eine soziale Zuschreibung, die aufgrund von äußerlichen Merkmalen gemacht wird und nicht mit der geschlechtlichen Identifikation der jeweiligen Person übereinstimmen muss. Im Text verwende ich das Wort „Frau“, um deutlich zu machen, dass es sich um Diskriminierungen handelt, die gerade Personen betreffen, denen dieses Geschlecht zugeschrieben wird. Im Begriff „Frauen*streik“ verwende ich ein Gender-Sternchen, da dies die vorrangig verwendete Bezeichnung der Organisator*innen des Streiks ist und auch Personen sichtbar machen soll, die sich nicht als Frau identifizieren.