In der Nacht vom 27. auf den 28. August 2015 wurde im niedersächsischen Salzhemmendorf ein Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft verübt. Nur durch einen Zufall wurde keine_r der Bewohner_innen körperlich verletzt. Am 17. März, knapp sieben Monate nach der Tat, wurden ein 31-Jähriger, ein 25-Jähriger und eine 24-Jährige vor dem Landgericht Hannover zu hohen Haftstrafen verurteilt. Wir haben den Prozess gegen sie an drei Verhandlungstagen beobachtet.
Als Aktivistinnen der Berliner Prozessbeobachtungsgruppe Rassismus und Justiz beobachten wir regelmäßig Prozesse und beschäftigen uns unter anderem mit der Frage, wie in Strafverfahren mit rassistisch motivierten Taten umgegangen wird. Wenn neonazistische Gewalttäter_innen vor Gericht stehen, kommt es erfahrungsgemäß häufig zu einer Entpolitisierung und Bagatellisierung ihrer Taten: Politische und ideologische Tatmotive werden nicht oder nur unzureichend beleuchtet, Angeklagte werden als isolierte Einzeltäter_innen dargestellt, ihre Kontakte in die rechte Szene ausgeblendet. Prominentes Beispiel für den Unwillen der Justiz, sich mit Neonazistrukturen und gesellschaftlich verankertem Rassismus auseinanderzusetzen, ist der NSU-Prozess, in dem die Bundesanwaltschaft in Bezug auf Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe weiterhin an ihrer These vom isolierten „Trio“ festhält, obwohl die Faktenlage eindeutig in eine andere Richtung weist. Im Effekt werden rechte Straftaten verharmlost, neonazistische Netzwerke ausgeblendet und der kausale Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Rassismus und rassistischen Gewalttaten verleugnet.
Salzhemmendorf-Prozess: Alles anders?
Die Verteidigung im Salzhemmendorf-Prozess gibt sich alle Mühe, das Verfahren im oben beschriebenen Sinne zu entpolitisieren. Die Angeklagten geben die ihnen vorgeworfene Tat zwar zu, bestreiten aber, aus einem rassistischen Motiv heraus gehandelt zu haben. In ihren Einlassungen geben sie sich unpolitisch und reumütig. Sie seien nicht „rechtsextrem“, hätten nichts gegen „Ausländer“ – im Gegenteil seien einige ihrer engsten Freunde „ausländische Mitbürger“. Ihre Tat erklären sie mit massivem Alkoholkonsum und Persönlichkeitsmängeln. Die Verteidiger_innen des Hauptangeklagten Dennis L. gehen noch weiter, prangern immer wieder die angeblich unzulässige Politisierung des Verfahrens an. Nur weil der niedersächsische Ministerpräsident am Tag nach dem Anschlag von versuchtem Mord gesprochen habe, seien die Angeklagten medial vorverurteilt worden, im Prozess solle an ihnen ein Exempel statuiert werden.
Allerdings – und das ist aus unserer Sicht bemerkenswert – scheitert die Verteidigung mit dieser Strategie. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei mit Sicherheit die klare Haltung sowohl der Staatsanwaltschaft als auch des Gerichts. Erstere benennt bereits in der Anklageschrift mit ungewohnter Deutlichkeit, dass sie hinter dem Brandanschlag ein rassistisches (in ihren Worten: fremdenfeindliches) Motiv sieht, das „auf niedrigster sittlicher Stufe“ stehe. Der vorsitzende Richter Rosenbusch lässt viel Raum für Fragen der Nebenklagevertreter_innen, die auf die politischen Einstellungen der Angeklagten sowie mögliche Kontakte in die rechte Szene zielen und fragt auch selbst in diese Richtung. Zudem lässt er sich nicht auf „Scharmützel“ um Beanstandungen und Formulierungen ein und bittet die Verteidigung, den Rahmen des Verfahrens nicht so eng zu sehen.
Einblicke in die ‚Nazi-Alltags-Kultur‘
Dadurch wird vieles sichtbar: das Zusammenleben und der Umgang miteinander im Dorf, alltäglicher Rassismus, Gewalt, Bedrohung. Was von Bekannten der Angeklagten als „normal“ wahrgenommen wird und was man nicht so genau wissen oder wahrhaben wollte. Auch wird klar, mit welchen psychischen Folgen die Opfer des Brandanschlags zu kämpfen haben und dass es purer Zufall ist, dass niemand getötet oder körperlich verletzt wurde.
Ungewöhnlich viel wird im Prozess und in der medialen Berichterstattung darüber gesprochen, ob die drei Täter_innen Nazis sind, ob es in Salzhemmendorf und Umgebung organisierte Nazistrukturen gibt. Letzteres wird von einigen Zeug_innen bestritten: Eine rechte Szene gebe es nicht, höchstens früher mal. Heute gebe es allenfalls Einzelpersonen, Suffköppe, die sich gerne mal prügeln. In diese Richtung gehen auch Aussagen des Bürgermeisters von Salzhemmendorf unmittelbar nach der Tat. Andererseits wird schon an den ersten Verhandlungstagen offenkundig, dass die Angeklagten Kontakte zu organisierten Nazis hatten. Es sind Namen bekannt, Vorfälle: Hakenkreuzschmierereien, Beleidigungen und Bedrohungen. Vieles deutet darauf hin, dass die ansässige Naziszene in Salzhemmendorf als normale Jugendkultur wahrgenommen wird, in der es schon mal vorkommt, dass jemand „Sieg Heil“ schreit. Jugenddummheiten eben. Ein Zeuge berichtet freimütig, „so eine Scheiße“ früher auch gemacht zu haben, aber aus dem Alter seien „die Jungs [die Angeklagten] doch jetzt raus“.
Im Zuge der Beweisaufnahme wird immer deutlicher, dass sich zwischen organisierten Nazis und unorganisierten, aber gleichwohl rassistisch und menschenverachtend denkenden Menschen keine klare Grenze ziehen lässt. Zu welchem Grad die drei Angeklagten politisch organisiert und vernetzt waren, lässt sich im Prozess nicht abschließend klären. Professionelle Kader scheinen sie nicht gewesen zu sein. Sie waren jedoch aktiver Teil einer Nazi-Alltags-Kultur, in der rechtsradikale Musik gehört, Hitler gelobt, Hakenkreuze geschmiert und menschenverachtende Sprüche gekloppt wurden.
Das Ergebnis: lange Haftstrafen und deutliche Worte
Das Urteil hätte kaum deutlicher ausfallen können. Das Gericht verurteilt die Angeklagten wegen versuchter schwerer Brandstiftung und versuchten Mordes zu mehrjährigen Haftstrafen. Wichtiger als die Höhe der Strafen ist jedoch aus einer linken Perspektive, dass der vorsitzende Richter in der mündlichen Urteilsbegründung klar die rassistischen Motive benennt, die nach Ansicht der Kammer hinter dem Brandanschlag stehen. Das „Bekenntnis zum nationalsozialistischen Rassenwahn“ sei eindeutig, bei der Tat handele es sich um „gemeinen Terrorismus“.
Sowohl bürgerliche Medien als auch Politiker_innen begrüßen das Urteil. Was in der Diskussion aus unserer Sicht zu kurz kommt, ist die Frage, wie ein in der Gesellschaft tief verankerter Rassismus, die Diskursverschiebung nach rechts, die alarmistische Berichterstattung über „Flüchtlingswellen“ und die massive Zunahme rassistischer Mobilisierungen ein Klima erzeugt haben, in dem die Brandstifter_innen aus Salzhemmendorf ungestört agieren konnten. Dennis L. gibt an, dass er und die Mitangeklagten am Tatabend über die „aktuelle Lage“ gesprochen hätten und „ob es gut sei, dass so viele Fremde kommen“. Er deutet an, dass diese Unterhaltung zu der Tat geführt haben könnte, scheint seine angebliche Verunsicherung sogar als Entschuldigung zu benutzen. Dieses ‚Argument‘ spitzt sein Verteidiger von Alvensleben nach der Urteilsverkündung gegenüber dem NDR noch zu: Die Tat seines Mandanten sei zwar nicht zu entschuldigen, könne aber als Ausdruck und Folge einer allgemeinen Überforderung der Bevölkerung durch die aktuelle Flüchtlingspolitik verstanden werden. Mit dieser Behauptung stellt er sich zumindest argumentativ in die Nähe der neonazistischen Vorstellung, bei rassistischen Gewalttäter_innen handele es sich um „Vollstrecker“ des „Volkswillens“.
Ein Zeuge bestätigt, dass der Unmut im Dorf über die Asylbewerber_innnen-Unterkunft langsam „hochgekocht“ sei. Eine weitere Zeugin, die lange mit ihrem Mann aus dem Irak in Salzhemmendorf lebte, berichtet von alltäglichen Sticheleien und Provokationen. Eine Bewohnerin des angezündeten Hauses schildert, dass ihre Kinder in der Schule als „Scheiß Schwarze“ beschimpft wurden. Daher wäre es unseres Erachtens falsch, sich nach dem klaren Urteil des Gerichts beruhigt zurückzulehnen. Vielmehr bleibt die Aufgabe, dem gesellschaftlichen Klima, in dem rassistische Gewalttaten derzeit vielerorts konsensfähig sind, den Boden zu entziehen. Denn, wie es ein Nebenklageanwalt in seinem Plädoyer gesagt hat: Salzhemmendorf stand in Hannover nicht vor Gericht. Warum? Weil Wegschauen, Weghören, Verharmlosen nicht strafbar ist.