Endlich scheint die Öffnung der Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere in greifbarer Nähe: Die Ampel-Regierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen, die Meldepflichten für Sozialbehörden zu überarbeiten. Zwar gibt es bereits einen Anspruch auf Gesundheitsversorgung für Migrant*innen auch ohne gültige Aufenthaltspapiere. In der Praxis ist der Zugang jedoch risikobehaftet. Zur Verwirklichung des Rechts papierloser Migrant*innen auf Gesundheit ist eine Abschaffung der Meldepflicht im Gesundheitswesen unabdingbar und gleichzeitig nicht ausreichend.
Das Menschenrecht auf Gesundheit
Gesundheit ist ein Menschenrecht – verankert unter anderem in Art. 12 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen (Sozialpakt). Dieser gilt in Deutschland seit der Ratifikation wie ein Bundesgesetz. Der Bundesgesetzgeber hat dafür ein in Art. 59 II GG vorgeschriebenes Zustimmungsgesetz verabschiedet. Da der Sozialpakt gleichzeitig ein völkerrechtlicher Vertrag ist, muss er auch bei der Auslegung von anderen nationalen Gesetzen berücksichtigt werden.
Konkret wird in Art. 12 des Sozialpakts das Recht jeder Person auf „das für [sie und] ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit“ anerkannt. Die Vertragsstaaten werden verpflichtet, die Voraussetzungen des Zugangs zu medizinischen Einrichtungen und ärztlicher Betreuung im Krankheitsfall für alle sicherzustellen.
Aufenthaltsrechtliche Meldepflichten
Dieses Recht auf Gesundheit wahrzunehmen, ist für Menschen ohne Papiere in Deutschland gerade allerdings noch sehr riskant und dadurch beschränkt. Das liegt an den Meldepflichten aus §§ 87 f. des Aufenthaltsgesetzes, näher erläutert in den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum AufenthG. Danach sind die meisten öffentlichen Stellen, darunter auch Sozialämter, dazu verpflichtet, Migrant*innen bei der Ausländerbehörde zu melden, wenn diese bei Vorsprache keine gültigen Aufenthaltspapiere vorweisen können. Die Ausländerbehörden prüfen dann eine Ausweisung.
Das verhindert faktisch oft den Zugang zu gesundheitlicher Versorgung für papierlose Migrant*innen. Zwar stehen ihnen nach geltender Rechtslage (§§ 4, 6 i.V.m. § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG) Gesundheitsleistungen zu, wie sie beispielsweise Asylsuchende in den ersten Monaten ihres Aufenthalts erhalten. Die ärztliche Schweigepflicht erstreckt sich auch auf administratives Personal der Praxen oder Krankenhäuser, sodass hier keine Meldung erfolgen darf (sog. verlängerter Geheimnisschutz). Allerdings muss – außer bei Notfällen – die bedürftige Person zur Kostenübernahme vorab einen Krankenschein beim zuständigen Sozialamt beantragen. Sozialämter unterliegen als öffentliche Stellen dabei regelmäßig den eben beschriebenen Meldepflichten gegenüber der Ausländerbehörde. Praktisch bedeutet dies, dass Betroffene sich entscheiden müssen, ob sie auf die behördliche Kostenübernahme für medizinische Behandlungen verzichten oder eine Ausweisung und Abschiebung riskieren.
Damit behindern die Meldepflichten den Zugang zu medizinischer Behandlung, wodurch auch die Chronifizierung und verspätete Diagnose von Erkrankungen begünstigt werden. Besonders deutlich werden die Folgen einer solchen Hürde angesichts der Corona-Pandemie, wo neben der Frage nach Zugang zu Impfungen und Tests auch Risikofaktoren für schwere Erkrankungen aufgrund bestehender Vorerkrankungen – verstärkt noch durch unzureichende Behandlung – oder eine allgemein schlechte körperliche Verfassung bestehen. Die Verwirklichung des Rechts auf das individuell erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit, wie es der Sozialpakt vorsieht, wird hier durch den Staat mittels der Meldepflichten aktiv verhindert.
Diese gravierende Hürde wurde auch im Staatenberichtsverfahren Deutschlands zum Sozialpakt thematisiert. Jeder Vertragsstaat des Sozialpakts muss alle fünf Jahre in einem Staatenbericht über die Umsetzung des Sozialpakts berichten. Begleitende Parallelberichte der Zivilgesellschaft weisen den zuständigen Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) auf Umsetzungsdefizite hin.
In einem gemeinsamen Parallelbericht machten Ärzte der Welt e.V. und andere zivilgesellschaftliche Akteur*innen 2017 auf den beschränkten Zugang zu Gesundheitsleistungen für irreguläre Migrant*innen in Deutschland aufmerksam. Der UN-Ausschuss selbst rügte diese Regelung schließlich in seinen Abschließenden Bemerkungen 2018 und empfahl, „eine klare Trennung […] zwischen den Erbringern öffentlicher Dienstleistungen und den Ausländerbehörden vorzunehmen, einschließlich der Aufhebung des § 87 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz, damit irreguläre Arbeitsmigrantinnen und -migranten Basisdienste angstfrei in Anspruch nehmen können.“
Greifbare Ansätze für einen besseren Zugang zu Gesundheitsversorgung
Rufe nach Verbesserungen gibt es einige. Kampagnen wie „GleichBeHandeln“ oder „Legalisierung Jetzt!“ machen auf die schwierige Situation irregulärer Migrant*innen insbesondere während der Pandemie aufmerksam. Ihre Forderungen reichen von der Abschaffung der Meldepflicht im Gesundheitswesen bis zur Legalisierung des Aufenthalts insgesamt, womit auch Zugänge zu weiteren gesellschaftlichen Teilhabebereichen eröffnet würden.
Im Mai erhob ein herzkranker Kosovare, der ohne gültige Aufenthaltspapiere in Deutschland lebt, Klage gegen die Stadt Frankfurt. Unterstützt durch die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und Ärzte der Welt fordert er Zugang zu Gesundheitsversorgung durch ein Verbot der Weitergabe seiner Daten vom Sozialamt an die Ausländerbehörde. Der Kläger sieht die Meldepflicht als verfassungswidrig an, da sie seine Menschenwürde und sein informationelles Selbstbestimmungsrecht verletze. Nachdem die Klage mit Verweis auf die fehlende Wohnanschrift zurückgewiesen wurde, entschloss sich der Kläger Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht zu erheben. Begleitet wird diese strategische Prozessführung durch Öffentlichkeitsarbeit, die die Abschaffung der Meldepflicht fordert.
Auf Ebene der für die Sozialämter zuständigen Bundesländer und Kommunen gibt es seit einigen Jahren zunehmend die Nutzung von sog. „anonymen Krankenscheinen“, die meist nach einer Beratung durch nichtstaatliche Stellen unter ärztlicher Leitung ausgegeben werden. Durch den verlängerten Geheimnisschutz werden dabei Meldepflichten umgangen. Von einer flächendeckenden Etablierung ist diese Praxis jedoch noch weit entfernt.
Nun ist die Bundesregierung am Zug
Der Auftrag, das Recht auf Gesundheit auch für undokumentierte Migrant*innen zu verwirklichen, liegt nun beim Bundesgesetzgeber, der für die Regelung der Meldepflichten im Aufenthaltsgesetz zuständig ist.
Es ist längst überfällig und zu begrüßen, dass die Ampel-Regierung sich in ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen hat, diese Meldepflichten zu überarbeiten. Etwas verhaltener äußert sich die Bundesregierung jedoch in der Beantwortung einer kleinen Anfrage vom 4. Mai 2022: Entsprechender Änderungsbedarf werde geprüft. Ob und wann eine Überarbeitung der aktuellen Regelung tatsächlich erfolgen wird, bleibt abzuwarten.
Es scheint unwahrscheinlich, dass der Empfehlung des CESCR gefolgt und der § 87 Abs. 2 AufenthG ganz abgeschafft wird, denn dadurch würde die staatliche Kontrolle irregulärer Migration geschwächt. Die Ampel-Regierung bekennt sich in ihrem Koalitionsvertrag auch zu dem Ziel, Ausreisen konsequenter durchzusetzen und spricht sogar von einer „Rückführungsoffensive“, auf die sie auch im laufenden Gesetzgebungsverfahren zu ihrem ersten Migrationspaket Bezug nimmt.
Einen etwas anderen Vorschlag als der CESCR unterbreiten die Kampagne „GleichBeHandeln“ und der Sachverständigenrat für Integration und Migration in seinem Jahresgutachten 2022, welches sich ausführlich mit dem Zugang von Migrant*innen zu Gesundheitsleistungen befasst. Empfohlen wird eine Änderung des § 87 Abs. 1 AufenthG, sodass der Gesundheitsbereich von der Meldepflicht ausgenommen wird. Aufenthaltsrechtliche Meldepflichten blieben in anderen Bereichen weiter bestehen, so beispielsweise beim Standesamt im Zuge der Ausstellung von Geburtsurkunden für Neugeborene. Eine solche Regelung entspräche auch dem Koalitionsvertrag, der als Ziel lediglich formuliert, niemanden von einer medizinischen Behandlung abzuhalten.
Eine Neuregelung wird sich daran messen lassen müssen, ob sie tatsächlich eine angstfreie Inanspruchnahme der Gesundheitsleistungen inklusive der Kostenübernahme ermöglicht. Ob die Ausnahmeregelung für den Gesundheitsbereich dies schon gewährleistet, bleibt fraglich. Tatsächliche Hürden sind bei Unwissenheit medizinischer Einrichtungen in Hinblick auf Ansprüche der Migrant*innen und bei Widerwillen mancher Stellen zur Behandlung undokumentierter Migrant*innen angesichts aufwändiger Abrechnungsverfahren zu erwarten.
Weiterer Handlungsbedarf
Während jede Einschränkung der Meldepflichten die Zugangshürden zu Gesundheitsleistungen senkt und daher aus menschenrechtlicher Sicht förderlich ist, bleiben andere Hindernisse bestehen. Dazu gehören Sprachbarrieren, denn eine Kostenübernahme für Sprachmittlung im Gesundheitswesen ist nur in wenigen Fällen vorgesehen. Weitere Hürden könnten durch mehrsprachige Informationskampagnen und durch die Förderung von Beratungsangeboten zum Zugang zum Gesundheitswesen abgebaut werden.
Darüber hinaus besteht noch ein weiteres Problem: Die über das AsylbLG nach Einschränkung der Meldepflicht zugänglichen Gesundheitsleistungen sind eingeschränkt und umfassen im Kern nur die Behandlung von akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen. Auch darüber zeigte sich der CESCR in seinen Abschließenden Bemerkungen von 2018 besorgt und empfahl die Schaffung eines „unabhängig von […] rechtlichen Status und Aufenthaltstitel […] gleichberechtigten Zugang[s] zu präventiven, kurativen und palliativen Gesundheitsdiensten“. Daran muss die Bundesregierung sich spätestens beim nächsten Staatenberichtsverfahren zum UN-Sozialpakt 2023 messen lassen.