Die aktuelle politische Stimmung in Deutschland und Europa nährt Stereotype gegenüber Geflüchteten und immer häufiger werden Schutzgehalte von Grund- und Menschenrechten in Asylverfahren in Frage gestellt. So wurde beispielsweise das Kandeler Tötungsdelikt vom 27. Dezember 2017 medienwirksam dazu instrumentalisiert, um Forderungen nach einer „medizinischen Altersfeststellung“ (zum Beispiel in Form von Röntgen- oder Genitaluntersuchungen) bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten zu äußern.
Mit seiner Entscheidung vom 25. Januar 2018 (Az. C-473/16) hat sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Ergebnis gegen den oben beschriebenen Trend positioniert. Doch weder wendet er die unionsrechtliche Grundrechtsdogmatik stringent an, noch wird der von ihm in seinen Entscheidungen genutzte sprachliche Stil der menschenrechtlichen Brisanz der Vorlagefragen gerecht.
Psychologische Tests zur Bestimmung der sexuellen Orientierung unangemessen
Der Entscheidung zugrunde liegt der Fall des nigerianischen Staatsbürgers F, dessen Asylantrag im Oktober 2015 von ungarischen Behörden abgelehnt wurde. In seinem Antrag hatte er angegeben, homosexuell und damit in seinem Heimatland von Verfolgung bedroht zu sein. Daraufhin waren durch einen Psychologen eine sogenannte Exploration, ein Draw-a-Person-in-the-Rain-, ein Rorschach- sowie ein Szondi-Test durchgeführt worden. Diese eingesetzten Methoden werden als projektive Persönlichkeitstests bezeichnet. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Reaktionen von Menschen auf vorgegebene Reize oder Aufgaben auswerten. So werden beispielsweise im Rahmen des Rorschach-Tests Menschen gefragt, was ihnen gezeigte Tintenkleckse darstellen könnten. Auf Grundlage der vorgenommenen Tests war der Gutachter zu dem Schluss gelangt, dass die Behauptung des Asylbewerbers über seine sexuelle Orientierung nicht glaubhaft sei und Fs Asylanatrag wurde abgelehnt.
Gegen die Ablehnung und die zugrunde liegende Verfahrenspraxis erhob F vor dem Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szeged Klage. Das Gericht argumentierte, psychologische Tests seien zur Abbildung der sexuellen Orientierung geeignet und würden die Menschenwürde nicht verletzen. Schließlich sei der F keiner körperlichen Untersuchung unterzogen worden und habe sich keine pornografischen Bilder ansehen müssen.
Die Richtlinie 2011/95/EU („Qualifikationsrichtlinie“) regelt, wann ein Mensch als Flüchtling anerkannt wird und welchen Verfahren sich Asylbewerber_innen unterziehen müssen. Die einzelnen nationalstaatlichen Asylverfahrensgesetze setzen diese unionsrechtlich verbindliche Richtlinie um. Da die Auslegung von Unionsrecht wiederum Kompetenz des EuGH ist, setzte das Gericht das Verfahren aus und rief den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV an. Vorgelegt wurde die Frage, ob die in Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) garantierte Menschenwürde der Erstellung von Glaubwürdigkeitsgutachten auf Basis projektiver Persönlichkeitstests oder gar den Einsatz aller fachgutachterlichen Methoden untersagt.
Der EuGH bestätigte in seiner Entscheidung, dass Art. 4 der Qualifikationsrichtlinie die gutachterliche Prüfung der Aussagen einer asylsuchenden Person zu ihrer sexuellen Orientierung grundsätzlich nicht untersagt, sofern ihre Resultate nicht bindend sind und keine Grundrechte aus der Grundrechtecharta verletzt werden. Jedenfalls psychologische Gutachten auf Grundlage projektiver Persönlichkeitstests – wie sie im Falle des F durchgeführt wurden – stünden im Lichte des Grundrechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 7 GRCh in einem Missverhältnis zum angestrebten Zweck, seien also unangemessen und damit unverhältnismäßig. Der von ihnen ausgehende Grundrechtseingriff sei „in Anbetracht seiner Art und seines Gegenstandes von besonderer Schwere“ (Rn. 60), weil sie die „persönliche Sphäre berühren, da es um intime Aspekte [des] Lebens geht“ (Rn. 61).
Dass der EuGH daher das Aufklärungsinteresse der Nationalstaaten zugunsten des Schutzes des Privatlebens von Asylbewerber_innen zurücktreten lässt, ist folgerichtig und erwartbar. Positiv hervorzuheben ist auch, dass das Gericht nochmals verdeutlicht, dass auch die Einwilligung einer asylsuchenden Person in einen psychologischen Test den Eingriffscharakter dieser Maßnahme nicht beseitigt. Die betreffende Person müsste schließlich befürchten, dass die Verweigerung des Tests von der Asylbehörde als „verdächtig“ aufgefasst werden könnte. Es handelt sich somit nicht um eine tatsächlich freiwillige Entscheidung. Warum jedoch nur projektive Persönlichkeitstests, nicht aber auch sonstige Tests und Gutachten zur sexuellen Orientierung einen unzulässigen Eingriff in die Intimsphäre darstellen, führt der EuGH nicht explizit aus.
Fragwürdiger sprachlicher Stil der Entscheidung
Schon im Jahr 2014 hatte der EuGH entschieden, dass Tests , bei denen Asylbewerber_innen homosexuelle Handlungen vornehmen oder durch Videoaufnahmen belegen, die in Art. 1 GRCh garantierte Menschenwürde verletzen (Az. C-148/13 bis C-150/13). Doch damals wie heute lässt das Gericht offen, wie sich die Anwendung projektiver Persönlichkeitstests zur Menschenwürde – dem fundamentalen Wert auch des Unionsrechts – verhält: Obwohl die Vorlagefragen des ungarischen Gerichts konkret auf die Prüfung einer möglichen Verletzung der Menschenwürde Bezug nehmen, hält der EuGH „es für die Beantwortung [der Fragen] nicht erforderlich, [die Qualifikationsrichtlinie] auch im Licht von Art. 1 [GRCh] auszulegen“ (Rn. 70).
Der Entscheidungsstil des EuGH folgt grundsätzlich dem des französischen Conseil d’État und ähnelt einem sehr knapp gehaltenen deutschen Urteilsstil. Er ist knapp, verweist kommentarlos auf frühere Rechtsprechung und enthält – anders als beispielsweise die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) – keine Sondervoten. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit rechtsdogmatischen Erwägungen bleibt weitgehend aus und findet sich nur in der zu knappen Abbildung der Schlussanträge der Generalstaatsanwält_innen, die rechtsvergleichenden und -soziologischen Fragen eher gerecht werden, wieder. Deren Inhalte sind aber nicht verbindlicher Teil der Gerichtsentscheidung. Rechtsverstöße werden nur insoweit geprüft, wie sie das Ergebnis der Entscheidung tragen. Wenn das Gericht eine Verletzung der Menschenwürde (Art. 1 GRCh) erst gar nicht prüft, weil bereits eine Verletzung des Art. 7 GRCh bejaht wurde, ist die Vorlagefrage des nationalen Gerichts grundsätzlich beantwortet: Die nationale Maßnahme ist mit dem Unionsrecht nicht vereinbar. Aus menschenrechtlicher Sicht ist diese Entscheidungspraxis aber unvollständig und birgt das Risiko, den besonderen Schutz der Menschenwürde zu übergehen: Denn, während die Menschenwürde unantastbar ist, können Eingriffe in das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gerechtfertigt werden.
Nachdem sich der EuGH bereits mehrmals abstrakt zu Fragen der Menschenwürde geäußert hatte, erkannte er sie in seiner Entscheidung zur Biopatentrichtlinie vom 9. Oktober 2001 (Az. C-377/98) erstmals als eigenständiges Grundrecht an. Trotz weiterer darauffolgender Entscheidungen entwickelte er jedoch bislang keine umfassende oder einheitlich Ausgestaltung und Auslegungsdogmatik der Menschenwürde. Einerseits entscheidet der EuGH vergleichsweise selten in Fragen der Menschenwürde, weil er speziellere Grundrechte vorrangig prüft, andererseits unterschieden sich die verschiedenen Menschenwürdekonzepte der EU-Mitgliedsstaaten erheblich. An der kargen Ausgestaltung der unionsrechtlichen Menschenwürdegarantie wird sich jedenfalls nichts ändern, solange der EuGH seine Kompetenzen zur Rechtsfortbildung und Rechtsharmonisierung nicht aktiv nutzt.
Als Minimalkonsens dürfte aber feststehen, dass die Menschenwürde einen Wert- und Achtungsanspruch bezeichnet, der dem Menschen gerade wegen seines Menschseins zukommt. Der Mensch ist Subjekt, nicht Objekt. Eine Verletzung der Menschenwürde erscheint hier unter diesem Blickwinkel nicht abwegig: Die betroffene Person beantwortet kryptische Fragen zu Fotografien, Zeichnungen und Tönen, ohne vorhersehen zu können, welche Schlüsse daraufhin über ihre sexuelle Orientierung gezogen werden können. Der sich um Asyl bewerbende Mensch wird – ohne Rücksicht darauf, wie viele Informationen er überhaupt preisgeben möchte – als objektifizierte Erkenntnisquelle des Asylverfahrens genutzt. Dass die sexuelle Orientierung außerdem der Intimsphäre zuzuordnen ist und das Dasein eines Menschen maßgeblich prägt, bestärkt diese These.
Tests und Gutachten zur Homosexualität sind bereits ungeeignet
Die Entscheidung des EuGH enttäuscht auch deshalb, weil sie die Chance zur Anwendung antidiskriminierungsrechtlicher Forschungsergebnisse nicht nutzt: Einerseits merken sowohl das Gericht als auch der Generalstaatsanwalt an, dass es für einen Asylantrag zur Begründung der Furcht vor Verfolgung ausreichend ist, dass dem_der Asylbewerber_in in ihrem Heimatland die Merkmale einer sozialen Gruppe zugeschrieben werden. Andererseits werden Tests und Gutachten zur Beurteilung der sexuellen Orientierung (!) als geeignete Mittel im Asylverfahren akzeptiert, deren Konzeption gerade bestimmte Vorstellungen von sexueller Orientierung zugrunde liegen. Begründet wird das mit der Aussage, dass Artikel 4 Abs. 5 der Qualifikationsrichtlinie eine „generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers“ und die „Kohärenz“ und „Plausibilität“ seiner Aussagen einfordere.
Artikel 10 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie:
„Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.“
Dies scheint kaum nachvollziehbar, da Artikel 10 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie eine antidiskriminierungsrechtlich gebotene und verbindliche Wertung vornimmt. Jede Art von Maßnahme, die auf die Überprüfung von Aussagen eines Menschen zu seiner tatsächlichen sexuellen Orientierung abzielt, ist bereits deshalb ungeeignet, weil in Ländern, in denen Homosexualität unter Strafe steht, häufig Personen vor allem deshalb verfolgt werden, weil ihnen eine gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung zugeschrieben wird. Ausgangspunkt für die Verfolgung sind nicht selten haarsträubende Stereotype und gesellschaftliche Vorstellungen von von homosexuellen Personen. So begründete der Anführer einer nordnigerianischen Religionspolizei die Festnahme von zwölf Männern mit ihrem „femininen Verhalten und femininen Aussehen“.
Noch im Jahre 2014 hatte der EuGH entschieden, dass Organe von EU-Mitgliedsstaaten im Asylverfahren nicht auf vergleichbare Stereotype zurückgreifen dürfen. Indem das Gericht nun aber – bei einem Verbot projektiver Persönlichkeitstests – die gutachterliche Prüfung der sexuellen Orientierung von Asylbewerber_innen grundsätzlich zulässt, unterschätzt es den geringen Erkenntniswert der Gutachten, die mangels objektiver Kriterien häufig auf gesellschaftlich vorherrschenden Bildern von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität beruhen dürften. Dadurch werden die Schutzaussichten der Personen, die überkommenen Geschlechterbildern nicht entsprechen, gefährdet. Betroffene sollen nicht ihre Homosexualität, sondern die Umstände, aus denen sich ihre Furcht vor Verfolgung im Heimatland ergibt, glaubhaft darlegen müssen. Nicht die Eigenschaft, sondern die Eigenschaftszuschreibung sollte im Mittelpunkt stehen.
In dubio pro dignitate!
Die oben behandelte Problematik ist kein Einzelfall. In Asylverfahren kommen Behörden der Intimsphäre von Asylbewerber_innen nicht selten problematisch nahe. Erst am 31. Januar entschied das Verwaltungsgericht Ansbach über einen Asylantrag und prüfte dabei – obwohl unnötig – anhand Aussagen des Asylbewerbers und seines Lebenspartners ausführlich, ob der Betroffene seine Homosexualität glaubhaft machen konnte: „Es steht zur Überzeugung des erkennenden Gerichts fest, dass der Kläger homosexuell ist“ (Rn. 23).
Der EuGH ist das oberste Rechtsprechungsorgan im Unionsrecht, doch die sprachlich knapp gehaltenen Entscheidungen lassen den Wunsch nach ausführlichen grundrechtsdogmatischen Ausführungen entstehen. Die teilweise Widersprüchlichkeit im Rahmen der Argumentation scheint der Komplexität der aufgeworfenen Fragen und ihrer Nähe zur Menschenwürde nicht gerecht zu werden. Würde er die Grund- und Menschenrechtsdogmatik und die Forschungsergebnisse des Antidiskriminierungsrechts konsequent anwenden, käme er zu folgendem Schluss: In dubio pro dignitate!