10 Jahre AGG – Da geht noch mehr!

Vor zehn Jahren trat das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in Kraft – anlässlich dessen könnte dieser Meilenstein der Gesetzgebung gebührend gefeiert werden. Könnte. Denn zu selten wird betroffenen Menschen ihr Recht auch wirklich zugesprochen. Gründe dafür liegen in gesetzlichen Schutzlücken und bei Problemen in der Rechtsdurchsetzung. Insbesondere im Bereich rassistischer Diskriminierung werden nur wenige Fälle zur Anklage gebracht. Wie kann das Gesetz effektiver werden? Und wo sind die Grenzen von rechtlichem Diskriminierungsschutz? Zeit für eine Evaluation.

Ein Meilenstein – das Recht auf der eigenen Seite!

Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des AGG fand am 16.08.2016 ein Fachgespräch des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg in Kooperation mit dem Bildungswerk Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung statt. Hintergrund war die im Auftrag der ADS durchgeführte Evaluation des Gesetzes. Die Beteiligten waren sich einig: Das AGG stellt einen Meilenstein im deutschen Rechtssystem dar. Seit 2006 haben sich mehr als 15.000 Menschen an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes gewendet. Staatliche und nicht-staatliche Beratungsstellen wurden gegründet, eine gesellschaftliche Debatte über Diskriminierung eröffnet und nicht zuletzt trugen richtungsweisende Fälle zur Rechtsfortbildung bei. Entgegen der häufig angeführten Kritik, die Privatautonomie werde abgeschafft, ermöglicht das AGG diese Freiheit für viele Menschen überhaupt erst.

Fest steht: Von Diskriminierung Betroffene haben mit dem AGG das geschriebene Recht auf ihrer Seite. Dennoch zeigen Evaluation und Praxiserfahrung Wirksamkeitsdefizite und Verbesserungsbedarf.

Sprachliche Differenzierung

Im AGG finden sich einige Begriffe, die zwingend einer Überholung bedürfen.  “Benachteiligung” wird der gesellschaftlichen Reichweite der Problematik nicht gerecht und sollte daher treffender durch “Diskriminierung” ersetzt werden.

Ebenso wichtig ist es, den Begriff “Rasse” zu streichen, weil es keine naturgegebenen menschlichen „Rassen“ gibt. Stattdessen “rassistische Diskriminierung” zu verwenden, würde das verdeutlichen und dazu führen, dass Rassismus als konkrete Ursache der Benachteiligung besser thematisiert werden kann.

Schutzlücken im Gesetz

Um Menschen konsequent vor Diskriminierung schützen zu können, müssen bestehende Schutzlücken im AGG geschlossen werden. Das aktuelle Gesetz schützt ausschließlich im arbeits- und zivilrechtlichen Bereich. Ungeschützt dagegen sind Menschen, die in Schulen und Universitäten Diskriminierung erfahren. Antidiskriminierungsgesetze braucht es daher zwingend auch auf Landesebene.

Ebenso wenig Teil des Schutzbereiches ist polizeiliches Handeln. Das zeigt sich besonders bei Fällen des racial profiling. Menschen, die aufgrund rassistischer Zuschreibungen willkürlicher Polizeikontrollen unterzogen werden, haben nicht die Möglichkeit, das AGG als Rechtgrundlage zu nutzen, sondern können sich bisher nur auf das Grundgesetz berufen und auf dem Verwaltungsrechtsweg die Feststellung der Rechtswidrigkeit von Kontrollen beantragen. Die Beweislastumkehr des § 22 AGG gilt dabei nicht und sie haben auch keinen Anspruch auf Entschädigung.

Das Gesetz in der Praxis

Viele Betroffene wissen nicht von der Existenz des AGG und können sich daher gar nicht erst auf ihr Recht berufen. So gibt es gerade im Bereich rassistischer Diskriminierung vergleichsweise wenige Verfahren. Weiß eine betroffene Person, dass sie gesetzlich vor Diskriminierung geschützt ist, stellt sich nun die Frage, an wen sie sich wenden kann.

Fehlende flächendeckende Beratungsmöglichkeiten

Denn es gibt zwar Beratungsstellen, staatliche wie unabhängige, von einer flächendeckenden Struktur an qualifizierten Beratungsstellen ist Deutschland jedoch weit entfernt. Niedrigschwellige, regionale Beratungsmöglichkeiten, wie beispielsweise das Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin (ADNB), sind eher die Ausnahme als die Regel. Auch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes verfügt nur über eine zentrale Stelle. Andere Länder wie Österreich oder Großbritannien, die weitaus höhere Summen für den Diskriminierungsschutz ausgeben, besitzen dagegen regionale Möglichkeiten der Beratung.

Recht bekommen – ein steiniger Weg

Da es nicht genügend Stellen gibt, bleibt häufig nur die Möglichkeit sich direkt an eine_n Anwält_in zu wenden. Leider gibt es noch zu wenige auf Antidiskriminierungsrecht spezialisierte und für Diskriminierung sensible Anwält_innen. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass eine Diskriminierung nur innerhalb von 2 Monaten geltend gemacht werden kann. Das reicht oft nicht aus. Deshalb hier die Forderung die Frist auf 6 Monate zu verlängern. Schließlich lässt sich Diskriminierung, trotz bestehender Beweislasterleichterungen, oft nur sehr schwer nachweisen. Maßnahmen wie der Auskunftsanspruch abgelehnter Bewerber_innen über die endgültige Einstellung bei Bewerbungsverfahren könnten an dieser Stelle helfen.

Forderung Verbandsklagerecht

Insgesamt hat die Beratungspraxis gezeigt, dass der gerichtliche Weg für viele Betroffene mit zu hohen Hürden und Kosten finanzieller, zeitlicher und auch emotionaler Art verbunden ist. Der Klageweg kommt somit gar nicht in Frage. Eine der wichtigsten Forderungen ist daher, ein Verbandsklagerecht im AGG zu verankern. Dieses würde es Antidiskriminierungsverbänden ermöglichen, Betroffene vor Gericht zu vertreten und effektiver zu unterstützen. So könnten, laut Eva Maria Andrades (ADNB), beispielsweise Diskriminierungen von geflüchteten Menschen auf dem Wohnungsmarkt sehr viel eher vor Gericht gebracht werden.

Ein modernes Rassismusverständnis fehlt

Hat eine Person nach all diesen Hürden tatsächlich Recht bekommen, fallen entsprechende Sanktionen leider häufig zu gering aus. Europäische Rechtsstandards, laut derer Sanktionen eine abschreckende Wirkung haben sollen, werden so häufig nicht berücksichtigt.

Im Fall einer rassistischen Einlassverweigerung in einen Club wurde einem Mann trotz Anerkennung der Diskriminierung die Entschädigung verweigert, AG Tübingen, Urteil vom 29.7.2011. Der Richter begründete dies damit, die Form der Demütigung würde nicht über alltägliches Unrecht hinausgehen. Das Urteil wurde zwar auf höherer Instanz revidiert. Allerdings zeigt der Fall, dass in deutschen Gerichten Rassimuserfahrungen oft nicht anerkannt werden, was auch mit einem verkürzten Rassimusverständnis in der Justiz zusammenhängt. Richter_innen und Anwält_innen muss ein Bewusstsein für moderne Formen von Rassismus und andere Formen von gesellschaftlicher Diskriminierung vermittelt werden. Solange diese Sensibilisierung fehlt und die Justiz ein strukturell weißer Raum bleibt, kann auch mit erleichterter Rechtsdurchführung kein lückenloser Diskriminierungsschutz gewährleistet werden.

Positive Maßnahmen ausweiten

Solche Strukturveränderungen sind auch mit positiven Maßnahmen möglich.

Ziel dieser ist es, durch rassistische Diskriminierung entstehende Nachteile auszugleichen. Verbindliche Regelungen bestehen bisher jedoch nur in der Förderung von Frauen und Menschen mit Behinderung. Auch für die Dimensionen Migration und Rassismus sollten proaktive Maßnahmen geschaffen werden.

Grenzen des Rechts – Aufgabe der Gesellschaft

Damit Gesetzesänderungen möglich werden, muss das Thema Diskriminierung im medialen und politischen Diskurs ein präsentes Thema sein.

Bei der Evaluation des rechtlichen Diskriminierungsschutzes darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden: Beratung und rechtlicher Schutz alleine reichen nicht aus, um rassistische Diskriminierung zu verhindern. Ein Gesetz kann diese zwar formal unter Strafe stellen und auf gesellschaftliche Wahrnehmung wirken, es braucht jedoch einen gesellschaftlichen Rückhalt, um Diskriminierung wirksam und präventiv zu bekämpfen.

Sollte es ein Kopftuchverbot für Richterinnen geben?
Wer erinnert sich? Kolonialismus, Völkermord und Zwangsarbeit.