Wer erinnert sich? Kolonialismus, Völkermord und Zwangsarbeit.

In den ersten beiden Augustwochen 2016 fand die Summer School „History, Memory & The Law“ der DePaul University in Chicago in Zusammenarbeit mit der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte und dem Institut für Transdisziplinäre Geschlechterstudien der HU statt. Eine gemischten Gruppe von Studierenden der HU und verschiedener US Universitäten beschäftigte sich mit drei großen Themengebieten: Kolonialismus und Migration, Völkermord, Zwangsarbeit. Im Mittelpunkt stand die vergleichende Perspektive auf die USA und Deutschland. Den roten Faden bildete dabei der Blick auf die Entstehung und Formung von öffentlichem Gedächtnis (public memory).

Participants and Teachers of Summer School „History, Memory & The Law“ Über zwei Wochen beschäftigten wir uns mit vielen verschiedenen Fallbeispielen. Einige davon möchte ich an dieser Stelle herausgreifen und vorstellen.

Der erste Themenblock zu Kolonialismus und Migration widmete sich der deutschen kolonialen Vergangenheit zwischen 1884 und 1918 mit Fokus auf die Kolonie Deutsch Süd-West Afrika (im heutigen Namibia), den Hererokrieg von 1904-1909 und den damit verbundenen Völkermord an den Herero und Nama. Bei einer postkolonialen Stadtführung durch das „Afrikanische Viertel“ im Wedding wurde deutlich, wie wenig dieses Kapitel der deutschen Geschichte bis heute aufgearbeitet wurde oder Teil der öffentlichen Erinnerungskultur geworden ist.

Der Völkermord an den Herero

Die deutsche Regierung betont zwar bis heute die „historische und moralische Verantwortung“, die Deutschland gegenüber Namibia trage, lehnt es aber ab, den Krieg gegen die Herero rechtlich als einen Völkermord zu werten. Bis heute versuchen Nachfahren der Herero in Namibia Entschädigungszahlungen von Deutschland vor Gericht einzuklagen, da Deutschland zu solchen Zahlungen bisher nicht bereit war. Um Entschädigung auf rechtlichem Wege zu erreichen, müssten die Handlungen des deutschen Heeres während des Herero Kriegs auch unter damaligem Recht unrechtmäßig gewesen sein. Einig ist man sich, dass unter heutiger Rechtslage mit der UN-Völkermordkonvention die Geschehnisse als Völkermord einzustufen sind.

Die Rechtslage zu Anfang des 20. Jahrhunderts ist allerdings nicht so eindeutig. Die deutsche Regierung führt an, dass zum Zeitpunkt des Krieges die Zivilbevölkerung nicht durch internationales Recht geschützt war. Fürsprecher_innen für einen Anspruch der Herero halten dagegen, dass Vernichtungskriege bereits zu Beginn des 20. Jh. völkerrechtlich verboten waren. Im Haager Abkommen von 1899 „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“ einigten sich die Vertragsstaaten beispielsweise auf eine menschliche Behandlung von Kriegsgefangenen und verboten, Feinde zu töten die sich bereits ergeben hatten. Dieses Abkommen gilt nur zwischen den Vertragsstaaten, könnte jedoch ein Anhaltspunkt für die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht sein.

Der Fall der Herero ist auch über die konkreten Problemlagen hinaus von Bedeutung, da er wohl einer der ersten ist, der auf Menschenrechtsverletzungen während der Kolonialzeit basiert. Somit könnte ein möglicher Erfolg oder Misserfolg der Herero, Entschädigung zu erhalten, Signalwirkungen für viele andere Gruppen entfalten, die Opfer von Verbrechen während kolonialer Herrschaft wurden.

Zwangssterilisation in den USA

Im Themenblock zu Völkermord befassten wir uns darüber hinaus mit einem Beispiel aus der US-Geschichte, das ist mir besonders im Kopf geblieben ist. Bis in die 80er Jahre hinein war es Praxis, indigene Frauen in den USA zwangssterilisieren zu lassen. Das Argument: diese wären übermäßig oft von Sozialhilfe abhängig und würden im Vergleich zur weißen US Bevölkerung zu viele Kinder bekommen. Sterilisierung von Frauen einer bestimmten Gruppe kann dafür gebraucht werden, die ganze Gruppe zu dezimieren oder auszulöschen. Laut Art. II d.) der UN-Völkermordkonvention kann Völkermord dadurch begangen werden, Maßnahmen zu verhängen, „die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind“. Die teilweise oder vollständige Zerstörung der Gruppe nachzuweisen, stellt sich allerdings problematisch dar. Es gab nie eine offizielle Weisung von Seiten der betroffenen US Bundesstaaten oder der föderalen Regierung. Vielmehr haben Ärzt_innen und Krankenpfleger_innen in vielen Einzelfällen die Unwissenheit der Frauen ausgenutzt, und ihnen in Aussicht gestellt, dass sie ihren Anspruch auf Sozialleistungen verlören, unterzögen sie sich nicht dem Eingriff. In anderen Fällen wurde der Eingriff ohne das Wissen der Patientin im Nachgang einer Geburt durchgeführt.

In keinem Fall hat es bis heute Entschädigungen oder eine Entschuldigung seitens der US-Regierung gegeben. An dieser Stelle tritt auch ein geschlechtsspezifischer Aspekt zu Tage. Die Sterilisierung zielte auf Native Americans als Gruppe, die Frauen waren aber besonders direkt betroffen durch den massiven Eingriff in ihre reproduktiven Rechte und die Stigmatisierung von unfruchtbaren Frauen in ihrer eigenen Community. Diese Eingriffe standen zu der Zeit nicht auf der Agenda von vornehmlich weißen Feministinnen in den USA, die sich im Gegenteil gerade für das Recht einsetzten, keine Kinder bekommen zu müssen. Ebensowenig waren sie Thema von vornehmlich männlich dominierten Interessenvertretungen von Native Americans, die sich gegen Rassismus stark machten.

Ob es in Zukunft Entschädigungszahlungen oder eine offizielle Entschuldigung geben wird, ist noch völlig ungeklärt und hängt eng damit zusammen, inwiefern Native Americans in Zukunft als Teil der US-amerikanischen Gesellschaft akzeptiert werden oder sich weiterhin rassistischen Vorurteilen ausgesetzt sehen müssen.

An dieser Stelle zogen wir einen Vergleich zum Nationalsozialismus in Deutschland, wo im Rahmen des T4 Programms psychisch oder körperlich kranke Menschen oder als „asozial“ geltenden Personen aus Gründen der „Rassenhygiene“ zwangssterilisiert wurden.

Zwangsarbeit im historischen Vergleich

Im dritten Themenblock zu Zwangsarbeit ging es um Zwangsarbeit während der Jim-Crow-Ära, der Zeit zwischen der Abschaffung der Sklaverei und der Herstellung der formalen Rechtsgleichheit für Schwarze in den USA. Trotz dem erklärten Ende der Sklaverei fand man mit Hilfe des Gefängnissystems in vielen Südstaaten weiterhin Mittel und Wege, vor allem junge Männer of color als kostenfreie Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und für gefährliche Arbeit in Mienen zu missbrauchen. Außerdem diskutierten wir über Zwangsarbeit in Konzentrationslagern während der Nazi-Zeit. Wir erfuhren von den so genannten „Sonderbauten“, den KZ-Bordellen. Dort wurden Frauen zur Prostitution gezwungen um privilegierten Häftlingen den Bordellbesuch zu ermöglichen. Dies kann als ein besonders perfides Bespiel dafür gelten, wie versucht wurde, die Grenzen von Opfern und Tätern zu verwischen und Häftlinge gegeneinander auszuspielen. Zusammen besuchten wir das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, wo wir uns mit der spezifischen Erfahrung der weiblichen Gefangenen unter dem Nationalsozialismus auseinandersetzten.

Besonders gefallen hat mir der klare systematische Zusammenhang, der zwischen den einzelnen Themenschwerpunkten hergestellt wurde. Immer wieder haben wir bereits erarbeitete Inhalte aufgegriffen und im Licht einer neuen Quelle beurteilt und eingeordnet. Fragestellungen nach der Funktionsweise von Rassismus, seiner historische Entstehung, Rechtfertigung und schließlich Bekämpfung standen immer wieder im Vordergrund und dienten uns als analytische Kategorien in ganz verschiedenen Zusammenhängen.

Die Summer School war eine tolle Möglichkeit, eine historische Perspektive auf Rassismus und lang gewachsene Ausgrenzungsmechanismen in unseren Gesellschaften einzunehmen und viel Neues darüber zu lernen. Durch die vielfältigen Erfahrungs- und Wissenshintergründe der Studierenden und Lehrenden entstanden interessante Diskussionen und Gespräche, die mich noch länger beschäftigen werden.

Der Beitrag ist auch im Semesterblick (S. 16) der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin erschienen.

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