Bei Polizeigewalt im Zweifel schweigen?

In den vergangenen Jahren erschütterten wiederholt Berichte über massives polizeiliches Fehlverhalten in Deutschland, nicht zuletzt im Zuge der politischen Aufarbeitung der NSU-Morde, die Öffentlichkeit. Schon 1996 empfahl der UN-Menschenrechtsausschuss die Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle für Betroffene von Polizeigewalt in Deutschland, ebenso wie 2015 der UN-Menschenrechtskommisar des Europarates und der UN-Antirassismusausschuss. Auch nichtstaatliche Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International fordern schon lange Maßnahmen gegen die Straflosigkeit von Polizeigewalt in Deutschland. Bisher passierte jedoch nicht viel.

Welche rechtlichen Anforderungen gibt es an den Umgang mit Beschwerden?

Das Recht auf wirksame Beschwerde ist in Artikel 2 Absatz 3 des UN-Zivilpaktes und Artikel 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) niedergelegt. Dieses Recht muss auch und gerade in Fällen von Menschenrechtsverletzungen durch Polizist_innen garantiert werden. Zudem verpflichten Artikel 7 des UN-Zivilpakts (Folter- und Misshandlungsverbot) sowie Artikel 2 (Recht auf Leben) und Artikel 3 (Folter- und Misshandlungsverbot) der EMRK den Staat zu einer unabhängigen Untersuchung von polizeilicher Gewalt.

Doch was bedeutet Unabhängigkeit? Eine unabhängige Beschwerdestelle muss nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zumindest unabhängig von unmittelbaren Kolleg_innen sowie hierarchischen und persönlichen Abhängigkeiten im Verhältnis zur Polizei agieren. Zudem müssen Beschwerdestellen in der Öffentlichkeit als unparteiisch wahrgenommen werden, denn bei der Einrichtung einer Beschwerdestelle geht es nicht zuletzt darum, das Vertrauen von Bürger_innen in die Polizei und den Rechtsstaat aufrechtzuerhalten bzw. zu etablieren.

Aufgrund des Menschenrechts auf effektiven Rechtsschutz, das u.a. in Artikel 13 der EMRK rechtlich verankert ist, muss eine Beschwerdestelle darüber hinaus angemessen ausgestaltet sein. Das bedeutet, dass sie über kompetentes Personal und adäquate Ressourcen verfügen muss. Zwischen der Unabhängigkeit und der Angemessenheit einer Beschwerdestelle kann es zu Spannungen im Hinblick darauf kommen, dass bei der Ermittlung von Beschwerden polizeiliches Fachwissen und Befugnisse von Nöten sind, jedoch gerade unabhängig von bereits erwähnten polizeilichen Abhängigkeitsstrukturen ermittelt werden soll.

Was gibt es bereits in Deutschland?

In Deutschland existiert bis dato keine unabhängige Untersuchungsstelle auf Bundesebene, die diesen Anforderungen genügen würde. Die Bundesregierung äußert sich dahingehend, dass eine effektive Rechtsdurchsetzung durch die bestehenden Strukturen bereits gewährleistet sei. Dies erscheint jedoch zweifelhaft, wenn man beachtet, dass mehr als 90 Prozent aller Ermittlungen zu Anzeigen wegen Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) und zu Aussetzung (§ 221 StGB) gegen Polizist_innen eingestellt werden. Aufgrund des Nähe- und Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei in Deutschland scheinen diese Zahlen symptomatisch für einen nicht effektiven Rechtsschutz. Ebenfalls muss davon ausgegangen werden, dass aufgrund der geringen Erfolgsaussichten zahlreiche Fälle gar nicht erst zur Anzeige gebracht werden. Beratungsstellen weisen zudem darauf hin, dass auf Anzeigen gegen Polizist_innen nicht selten mit Anzeigen gegen die Betroffenen, z.B. wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, reagiert wird. Eine unabhängige Stelle zur Untersuchung relevanter Vorfälle könnte diese Tendenz mindern und insbesondere Menschen mit geringer Beschwerdemacht (z.B. aufgrund von geringem Einkommen, mangelnden Sprachkenntnissen, körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen) zu ihren Rechten verhelfen. So sprachen sich die Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und DIE LINKE im NSU-Untersuchungsausschuss für die Einrichtung von Polizei-Beschwerdestellen aus. Ein Gesetzesentwurf auf Bundesebene wurde im März 2015 von der Fraktion Die Linke in den Bundestag eingebracht.

Immerhin in Rheinland-Pfalz gibt es seit 2014 einen Beauftragten für die Landespolizei. Dieser ist zur Wahrung seiner Unabhängigkeit nicht im Innenministerium angesiedelt, sondern bei dem Bürgerbeauftragten. Polizist_innen sowie Bürger_innen können sich mit Beschwerden an ihn wenden.

Über den Tellerrand…

Wie genau eine unabhängige polizeiliche Beschwerdestelle aufgebaut und ausgestaltet werden kann, um effektiven Schutz für Betroffene zu gewährleisten, wird im internationalen Vergleich unterschiedlich beantwortet.

Zwei Modelle stehen im Mittelpunkt der Diskussion: Zum einen wird die Einrichtung sogenannter Ermittlungsstellen vorgeschlagen. Dies sind Stellen, die mutmaßliche Polizeidelikte unter Sachleitung der Staatsanwaltschaft aufklären sollen. Als Ermittlungsstelle wäre beispielsweise die Einrichtung einer neuen polizeilichen Ermittlungseinheit denkbar, die mit strafprozessualen Befugnissen ausgestattet und damit auch gerüstet wäre, gegen Polizeigewalt zu ermitteln. Hier könnte jedoch die fehlende Unabhängigkeit wieder zum Problem werden. Zum anderen wird die Einrichtung von Ombudsstellen vorgeschlagen. Alternativ oder ergänzend zu Ermittlungsstellen könnten sie auch bei nicht-strafbarem Verhalten tätig werden. Die aus den Ermittlungen resultierenden Ergebnisse von strafrechtlicher Relevanz könnten dann an die Staatsanwaltschaft weitergegeben werden. Wichtig ist hier, dass eine Ombudsstelle nur dann effektive Arbeit leisten und Vertrauen in der Bevölkerung gewinnen kann, wenn sie frei von exekutiven Weisungen agiert.

In jedem Fall muss eine Beschwerdestelle unmittelbar und barrierefrei für alle Menschen zugänglich sein. Außerdem sollten ihr, um effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, die Akteneinsicht, die Befragung von Zeug_innen und die unangemeldete Inspektion von polizeilichen Ermittlungen als Befugnisse zugesprochen werden. Eine Verpflichtung von polizeilichen sowie sonstigen Stellen zur Amtshilfe ist zumindest wünschenswert.

Die Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte hat es sich, unterstützt durch den Rechtsanwalt Carsten Ilius, zur Aufgabe gemacht, den hier skizzierten Fragen weiter nachzugehen und wird voraussichtlich Ende 2016 die Ergebnisse des Projekts vorlegen.

Dieser Blogpost erschien in einer längeren Version als Artikel im Prager Frühling.

Zur vertiefenden Lektüre empfehlen wir einen ausführlichen Bericht von Eric Töpfer vom Deutschen Institut für Menschenrechte.

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