„Understanding intersectionality as a way of thinking, as a way of doing.“ Das ist der programmatische Satz, den die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw fast 700 Gästen bei der feministischen Geburtstagsgala „Happy Birthday Intersectionality“ am 28. April 2019 mit auf den Weg gibt. Wie das Konzept von mehrdimensionaler Diskriminierung aktuell von rechts unterwandert wird und warum der Aufruf für echte Intersektionalität von den Rechtswissenschaften ungehört bleibt
Als die Tür zum Veranstaltungsort geöffnet wird, läuft die wartende Gruppe los. Alle versuchen einen Platz im Saal mit der großen Livebühne zu ergattern. Nach wenigen Minuten ist nicht nur dieser komplett belegt, sondern auch alle weiteren Räume sowie die Freitreppe, wo die Veranstaltung per Video übertragen wird. Der Andrang an diesem Sonntagabend ist so groß, als wäre mindestens Michelle Obama auf Einladung des Gunda-Werner-Instituts und des Centre for Intersectional Justice nach Berlin gekommen und nicht eine in Deutschland weithin unbekannte US-amerikanische Juristin. Dabei gibt es – wie die Menschen hier zu wissen scheinen – allen Grund Kimberlé Crenshaw, Aktivistin und Jura-Professorin an der UCLA und der Columbia Law School, erleben zu wollen. Sie ist nicht nur eine exzellente Rednerin – siehe ihr TED Talk – sondern auch die Begründerin des Konzepts der Intersektionalität.
Intersektionalität. Das Wort klingt kompliziert, doch die Perspektive, die es beschreibt, ist so bahnbrechend wie einfach: Diskriminierung als ein komplexes, mehrdimensionales Phänomen. Eine Schwarze Frau kann demnach als Frau diskriminiert werden und als Person of Color. Aber sie kann eben auch als Schwarze Frau diskriminiert werden. Diese Diskriminierung ist dann mehr als die Summe der jeweils einzelnen Diskriminierungserfahrungen. Vielmehr verschränken sich die sexistische und die rassistische Diskriminierung zu einer spezifischen Diskriminierung als Schwarze Frau. Das gilt auch für weitere Kategorien wie Geschlecht, Rassismus, Alter, Klasse, Ability oder Sexualität; die einzelnen Kategorien wirken zusammen. Crenshaw veranschaulicht den Begriff der Intersektionalität mit der Metapher der Straßenkreuzung (engl. Intersection), denn wie der Verkehr kann auch die Diskriminierung aus unterschiedlichen Richtungen kommen. Die Realität, die sich daraus für mehrfachdiskriminierte Personen ergibt, kann ich als privilegierter weißer Mann (auch Privilegien verschränken sich gegenseitig) zwar versuchen abstrakt nachzuvollziehen – verstehen, was es tagtäglich bedeutet, kann ich nicht.
Intersectionality is gentrified
In Ihrer Rede wagt die Vordenkerin Crenshaw einen kleinen Rückblick. In den letzten dreißig Jahren habe sich viel verändert und sie sehe das Konzept der Intersektionalität trotz oder gerade aufgrund seiner wachsenden Popularität in Gefahr: „Intersectionality is gentrified. When certain people come in, others move out.“ Es beriefen sich immer mehr Menschen auf Intersektionalität und dabei bestehe die Gefahr, dass die spezifische Perspektive auf strukturelle und sich überschränkende Diskriminierungsverhältnisse verloren gehe. „Some of the people who take up the concept, have obviously not dealt with some of the basic texts of it. I can choose to write back and I have been doing that a bit more lately.“ Dieser Trend gehe so weit, dass inzwischen auch privilegierte weiße Männer versuchen würden, das Konzept für ihre Zwecke umzudeuten. Crenshaw berichtet vom republikanischen US-Senator Lindsey Graham, der bei der Anhörung des Kandidaten für den Supreme Court Brett Kavanaugh den Spirit der Intersektionalität aufgriff und versuchte sich selbst als diskriminiert darzustellen: „I am a single white male from South Carolina and I am told I should shut up, but I will not shut up.“
Der Ursprung der Intersektionalität: die US-Supreme-Court-Entscheidung DeGraffenreid vs. General Motors (1976)
Entwickelt hat Crenshaw das Konzept 1989 in ihrem Aufsatz „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex“ (auf Deutsch erschienen im Jahr 2010). In ihrer Analyse von Entscheidungen des Supreme Court zum Antidiskriminierungsrecht legte sie dar, wie dieser die spezifische Diskriminierungserfahrung Schwarzer Frauen negierte. In dem Fall DeGraffenreid vs. General Motors (1976) klagten fünf Schwarze Frauen gegen das Vergütungssystem des Konzerns, welches auf der Dauer der Betriebszugehörigkeit basierte und so die Folgen der Rassentrennung aufrechterhielt. Das Gericht erkannte die Kategorie als Schwarze Frau als eigenständigen Diskriminierungsgrund jedoch nicht an. Wörtlich schrieb der Supreme Court: „The Court notes that plaintiffs have failed to cite any decisions which have stated that black women are a special class to be protected from discrimination. […] [T]hey should not be allowed to combine statutory remedies to create a new ‘super-remedy’.” Die jeweiligen Antidiskriminierungsansprüche könnten nicht zu einem „Super-Anspruch“ kombiniert werden. Da weiße Frauen von der Regelung im Vergütungssystem nicht betroffen waren, lehnte das oberste Gericht jedoch erst die separate geschlechtliche Diskriminierung, danach aber auch die separate rassistische Diskriminierung ab. Anhand dieser Entscheidung entwickelte Crenshaw die spezifische Perspektive der Intersektionalität.
„What the law cannot see“
Schon die Herkunft des Konzepts belegt die herausragende Bedeutung von Intersektionalität für die Rechtswissenschaft. In ihrer Rede formuliert Crenshaw es so: „Intersectionality offers us a word for something the law cannot see“. Mit dem Konzept der Intersektionalität gelingt es, einen Bereich auszuleuchten, der von der Rechtswissenschaft oft unentdeckt und unerforscht bleibt. Wie kann diese Erweiterung des Blicks konkret aussehen? Die intersektionale Perspektive in der Rechtwissenschaft ist eine, die „andere Fragen stellt“. Nora Markard hat diese „andere Frage“ im Rückgriff auf Mari Matsuda vorgeschlagen. Die Frage kann dann zum Beispiel lauten: Wo steckt das Patriachat im Rassismus? Oder auch: Wo ist der Heterosexismus im Sexismus? Damit hat Markard die Intersektionalität auch für den deutschen Kontext als Analyseinstrument im Recht nutzbar gemacht. Dennoch findet Intersektionalität in Deutschland in der Rechtsprechung und der rechtswissenschaftlichen Lehre wie Forschung fast gar keine Beachtung.
Einsatzfelder für Intersektionalität als Analysekategorie gibt es genug. Als paradigmatisches Beispiel für den deutschen Kontext gilt das Kopftuch. Wenn eine Frau mit Kopftuch eine bestimmte berufliche Anstellung verweigert wird, wird diese nicht nur als Muslima, folglich rassistisch und auf Grund ihrer Religion diskriminiert. Sie wird eben auch als Frau auf Grund ihres Geschlechts diskriminiert. In seiner berühmten Ludin-Entscheidung zum Kopftuch einer baden-württembergischen Lehrerin aus dem Jahr 2003 hat das Bundesverfassungsgericht jedoch nur eine Diskriminierung nach Art. 4 I, II GG (Religionsfreiheit) und nicht eine sexistische Diskriminierung nach Art. 3 III 1 GG (Gleichheitsgrundsatz) geprüft. Doch die aktuelleren Entscheidungen der Karlsruher Richter*innen lassen Ansätze einer intersektionalen Perspektive erkennen. Bei einer Verfassungsbeschwerde einer muslimischen Lehrerin aus NRW erklärte das Gericht, in Hinblick auf das angegriffene Gesetz: „Dass auf diese Weise derzeit faktisch vor allem muslimische Frauen von der qualifizierten beruflichen Tätigkeit als Pädagoginnen ferngehalten werden, steht zugleich in einem rechtfertigungsbedürftigen Spannungsverhältnis zum Gebot der tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen (Art. 3 Abs. 2 GG).“
Auch auf den unteren Instanzen gibt es Fälle, die Hoffnung wecken. Das OLG Stuttgart erkannte in einem sogenannten „Diskofall“ eine Kombination von rassistischer Diskriminierung und situativer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts an. Der Kläger und ein Zeuge, die an Tür des Nachtclubs abgewiesen wurden, seien auf Grund ihrer „Hautfarbe in Kombination mit ihrem männlichen Geschlecht“ diskriminiert worden. Bis zu einer verbreiteten intersektionalen Perspektive in Rechtsprechung und Literatur ist es trotzdem noch ein sehr langer Weg.
Dabei erscheint Intersektionalität gerade für die vielen Fälle von Diskriminierung im Bereich von Asyl und Migration unerlässlich. Beispielhaft sei die Analyse von Markard genannt, die aus einer intersektionalen Perspektive eine Änderung des Aufenthaltsgesetzes im Bereich des Familiennachzugs zur Verhinderung von Zwangsehen untersuchte. Mit einer intersektionalen Perspektive gelingt es ihr, „rassifizierte Konstruktionen von Geschlechterrollen“ herauszuarbeiten, die dazu führten, dass „migrantische Männer pauschalisierend unter den Verdacht der Zwangsehe gestellt, und migrantische Frauen diskursiv entmündigt werden“.
Alle diese Beispiele zeigen, wie groß ein Bedarf für die Verbreitung intersektionaler Analysen ist. Und so kann man nur hoffen, dass in den nächsten 30 Jahren in der Rechtswissenschaft mehr zum Thema Intersektionalität passieren wird – überzeugende Argumente und Inspiriationsfiguren gibt es auf jeden Fall, wie nicht nur dieser Abend verdeutlicht. In diesem Sinne – Thank you, Kimberlé Crenshaw, Happy Birthday Intersektionalität.