Eltern sind Eltern – nur bis zur Grenze eines Mitgliedstaates?

Die Rechte gleichgeschlechtlicher Eltern in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) reichen unterschiedlich weit. Faktisch existieren sog. Regenbogenfamilien in allen Staaten der EU, auch wenn sie nicht überall rechtlich anerkannt werden. Sie genießen natürlich genauso wie jede*r EU-Bürger*in das Recht, sich frei in der EU zu bewegen und aufzuhalten. Doch wie steht es um ihre Elternschaft, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch nehmen? Endet diese rechtlich an der Grenze eines Mitgliedstaates? Der EuGH bezog Ende letzten Jahres nun erstmals Stellung zu einer Anerkennungspflicht im Abstammungsrecht und stärkte dabei die Rechte von Regenbogenfamilien. Es bleiben allerdings Fragen offen, die neue Unsicherheiten schaffen können.

Die Situation von Regenbogenfamilien in den Mitgliedstaaten

Das Familienrecht fällt in die Gesetzgebungskompetenz der Mitgliedstaaten. Daraus folgt, dass die EU grundsätzlich keine Befugnis hat, die Situation von Regenbogenfamilien insgesamt und einheitlich zu regeln. Die staatliche Anerkennung der Beziehung und der Elternschaft von gleichgeschlechtlichen Paaren und nicht heteronormativen Familienkonstellationen hängt somit in erster Linie vom nationalen Recht der Mitgliedstaaten ab. Es existiert dementsprechend ein EU-weiter Flickenteppich an Regelungen.

Der von der Nichtregierungsorganisation ILGA Europe (European region of the International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association) veröffentlichte Index zur rechtlichen Situation aus dem Jahr 2021 veranschaulicht diesen Flickenteppich. So können beispielsweise in Spanien zwei Mütter als Eltern in der Geburtsurkunde eines Kindes aufgenommen werden, während andere Mitgliedstaaten, wie Bulgarien, weder eine Geburtsurkunde mit zwei gleichgeschlechtlichen Eltern ausstellen noch eine spätere Adoption des leiblichen Kindes des*der gleichgeschlechtlichen Partner*in erlauben. Dies kann in der durch die Freizügigkeit geprägten Lebensrealität von EU-Bürger*innen zu rechtlichen Konflikten und faktischen Problemen für Kinder aus Regenbogenfamilien führen.

Die Auswirkungen des Freizügigkeitsrechts

Einen solchen Fall hatte jüngst der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Rechtssache V.M.A. zu entscheiden. In der am 14. Dezember 2021 ergangenen Entscheidung befasste sich der EuGH mit der Frage, ob einem in Spanien geborenen Kind einer bulgarischen und einer britischen Staatsangehörigen eine bulgarische Geburtsurkunde ausgestellt werden muss, um ein bulgarisches Identitätsdokument beantragen zu können. Die bulgarische Mutter beantragte eine bulgarische Geburtsurkunde unter Vorlage der spanischen Geburtsurkunde, die beide Frauen als Mütter ausweist. Die Gemeinde Sofia verlangte jedoch einen Nachweis über die Identität der leiblichen Mutter, da das in Bulgarien geltende Muster lediglich ein Feld für die „Mutter“ und ein weiteres für den „Vater“ vorsehe. Die Antragstellerin sah sich zur Preisgabe dieser Information nicht verpflichtet, sodass die Gemeinde Sofia letztendlich den Antrag ablehnte.

Das Einfallstor für die Entscheidungsbefugnis des EuGH in dem im Familienrecht angesiedelten Fall bildet dabei das in Art. 21 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV) verbürgte Recht des Kindes auf Freizügigkeit. Um dieses mit beiden Elternteilen ungehindert wahrnehmen zu können, so der EuGH, benötige es ein bulgarisches Identitätsdokument, das dem Kind als bulgarischer Staatsangehöriger schon nach Art. 4 Abs. 3 der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG zustehe. 

Im Kern behandelt die Entscheidung also die Anerkennung der spanischen Geburtsurkunde als Ausgangspunkt der Ausstellung eines bulgarischen Identitätsdokumentes und somit letztlich die Frage nach einer unionsrechtlichen Anerkennungspflicht im Abstammungsrecht.

Der EuGH bejaht eine solche Anerkennungspflicht zum Zwecke der Wahrnehmung des Rechts auf Freizügigkeit aus Art. 21 Abs. 1 AEUV und dem damit zusammenhängenden Sekundärecht. Im konkreten Fall sind die bulgarischen Behörden also verpflichtet, dem Kind ein Identitätsdokument, sprich einen Personalausweis oder Reisepass, mit den Angaben, die sich aus der spanischen Geburtsurkunde ergeben, auszustellen. Sie können weder Auskunft darüber verlangen, wer die nach ihrer Vorstellung leibliche Mutter des Kindes ist, noch können sie die Ausstellung des beantragen Reisepasses von der vorherigen Errichtung einer bulgarischen Geburtsurkunde abhängig machen.

Diese Pflicht ist nach dem EuGH jedoch durch ihren relativen Charakter geprägt und gilt nicht zu anderen Zwecken, sodass auch keine Pflicht zur generellen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Elternschaft im nationalen Personenstandsrecht besteht.

Der EuGH beschränkt sich damit also ausdrücklich auf das eindeutig in seine Kompetenz fallende Freizügigkeitsrecht. Dabei betont er jedoch, dass eine Einschränkung dieser begrenzten Pflicht durch einen Mitgliedstaat mit Verweis auf dessen nationale Identität oder öffentliche Ordnung nicht gerechtfertigt ist. Insbesondere verstoße eine solche beschränkende Maßnahme durch einen Mitgliedsstaat auch gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gem. Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU (GRCh) und gegen die Rechte des Kindes gem. Art. 24 GRCh, indem sie dem Kind aufgrund der Gleichgeschlechtlichkeit der Eltern entweder die Beziehung zu einem Elternteil oder die Ausübung des Freizügigkeitsrechts übermäßig erschwere.

Die Rechtsprechung des EuGH zur Freizügigkeit als Motor der Gleichberechtigung

Das Recht auf Freizügigkeit gewährleistet nach der Entscheidung des EuGH dem Kind somit, ein „normales Familienleben“ mit beiden Elternteilen unabhängig ihres Geschlechts und ihrer sexuellen Orientierung im Aufnahmemitgliedstaat und auch im Herkunftsmitgliedstaat der Eltern zu führen.

An diesem Beispiel zeigt sich das große Potenzial des Rechts auf Freizügigkeit für den Fortschritt im Bereich der Gleichberechtigung von Regenbogenfamilien. Der EuGH lässt nämlich offen, wie weit die Anerkennungspflicht zum Zwecke der Freizügigkeit im Einzelfall reicht. Rechtliche Unsicherheiten in anderen Bereichen des Familienlebens können Regenbogenfamilien ebenfalls von einem Aufenthalt oder Umzug in einen anderen Mitgliedstaat abhalten. Es ist also denkbar, dass das Gericht auch dann eine Einschränkung der effektiven Wahrnehmung des Freizügigkeitsrechts feststellen wird, wenn die familiären Beziehungen beispielsweise in Bezug auf das Sorge- und Umgangsrecht im Herkunftsmitgliedstaat nicht anerkannt werden. Eine solche weite Auslegung birgt das Potenzial einer Gleichstellung von Regenbogenfamilien in allen rechtlichen Situationen zum Zwecke der effektiven Wahrnehmung des Freizügigkeitsrechts. 

Gleichzeitig bestehe jedoch bei einer weiten Auslegung die Gefahr der Nichtumsetzung und damit letztendlich des Autoritätsverlustes des EuGH, so Fabian Michl im Verfassungsblog. Dies zeige sich z.B. an der bisherigen Nichtumsetzung der zurückhaltenden Entscheidung in der Rechtssache Coman aus dem Jahr 2018, in der dem gleichgeschlechtlichen Ehepartner eines rumänischen Staatsangehörigen ein Aufenthaltstitel zum Zwecke der Freizügigkeit zugesprochen wurde.

Ungenutztes Potenzial und bleibende Unsicherheiten

Der EuGH stärkt mit seiner jüngsten Entscheidung grundsätzlich weiter die Rechte von Regenbogenfamilien. Zugleich bleibt ein großes Potenzial im Freizügigkeitsrecht zur umfassenden Beseitigung von Diskriminierungen bisher ungenutzt. Ein Grund könnte die Unsicherheit in Bezug auf die Umsetzung seiner Entscheidungen durch die Mitgliedstaaten in diesem politisch aufgeladenen Bereich sein. Sie kann also einen Hemmfaktor für die Rechtsprechung darstellen. Regenbogenfamilien bleiben demnach in doppelter Hinsicht in der Schwebe. Zum einen warten sie auf die tatsächliche Umsetzung ihrer zugesprochenen Rechte. Zum anderen werden Unklarheiten in Bezug auf die Reichweite der rechtlichen Anerkennung ihrer Familie nicht vollständig beseitigt. 

Ein alleiniges Verlassen auf den EuGH für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichberechtigung ist trotz Fortschritt zum aktuellen Zeitpunkt also nicht möglich. 

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