EuGH zu AGG-Scheinbewerbungen – Auswirkungen in der Praxis

Drei Wochen vor dem 10-jährigen Bestehen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) präsentiert der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Entscheidung zum Thema Rechtsmissbrauch. Ein passender Zeitpunkt für die Kritiker*innen des AGG, die von Anfang an vor rechtsmissbräulichen Klagen warnten, sich bestätigt zu fühlen. Die Klagewelle ist ausgeblieben, nicht jedoch der sogenannte AGG-Hopper. Jederzeit zur Stelle bei diskriminierungsanfälligen Stellenausschreibungen bemächtigt er sich der Anspruchsgrundlagen aus dem AGG, mit dem Ziel nicht die Stelle, aber eine Entschädigung zu erhalten. So einfach die Entlarvung des Scheinbewerbers. Oder etwa nicht?

Rechtsmissbrauch als Realität

In Deutschland gibt es seit Inkrafttreten des AGG am 18. August 2006 einige wenige Personen, die sich durch die vermehrte Erhebung von Entschädigungsklagen hervor getan haben. Das findet auch in den Medien gern Verbreitung. Identifiziert wurden einige Rechtsanwälte, die sich auf Stellen bewarben, nicht mit dem Ziel der Einstellung sondern eine Entschädigung zu erhalten. So auch der vom EuGH zu entscheidende Fall. Im Jahr 2009 bewarb sich ein Rechtsanwalt bei der R+V-Versicherung, in einem Programm, mit dem junge Führungskräfte gefördert werden sollten. Nach einer Ablehnung klagte er wegen Altersdiskriminierung. Nachdem er später erfuhr, dass alle Stellen des Programms mit Frauen besetzt wurden, erweiterte er wegen Geschlechterdiskriminierung die Klage auf insgesamt 17.500 € Entschädigung.

Diese Konstellationen erinnern stark an jene Studenten, die vor Erlass des AGG in Anwendung des § 611a BGB a.F. ebenfalls eine nicht unwesentliche Anzahl von Entschädigungsklagen erhoben und zu einer Missbrauchs-Kasuistik nach alter Rechtslage beigetragen haben. Danach konnte eine Geltendmachung einer Entschädigung nach § 611a Abs. 2 BGB rechtsmissbräuchlich sein, wenn sich jemand von Anfang an mit der Absicht auf eine Stelle beworben hat, ohne ein Arbeitsverhältnis begründen zu wollen, sondern lediglich eine Entschädigung zu erhalten (z.B. LAG Hamm, Urt. v. 22.11.1996 – 10 Sa 1069/96 -, juris Rn. 2). Durch die Gerichte wurden zudem Indizien entwickelt, die den Einwand des Rechtsmissbrauchs belegen konnten. Dadurch wurde eine Nebenverdienstmöglichkeit unterbunden und der Sinn und Zweck des § 611a BGB a.F. klar herausgestellt. Schon vor dem AGG gab es also eine rechtliche Handhabung, die Missbrauch erschwert hat. Seit in Krafttreten des AGG haben das Bundesarbeitsgericht sowie die Instanzgerichte diese Grundsätze weiter angewandt und Indizien, die für einen Missbrauch sprechen können, weiterentwickelt.

Die Rechtsprechung des EuGH

Mit Entscheidung vom 28. Juli 2016 stellt der EuGH fest, „dass eine Situation, in der eine Person mit ihrer Stellenbewerbung nicht die betreffende Stelle erhalten, sondern nur den formalen Status als Bewerber erlangen möchte, und zwar mit dem alleinigen Ziel, eine Entschädigung geltend zu machen, nicht unter den Begriff „Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger Erwerbstätigkeit“ im Sinne der Richtlinien (2000/78/EG sowie 2006/54/EG) fällt und, wenn die nach Unionsrecht erforderlichen Tatbestandsmerkmale vorliegen, als Rechtsmissbrauch bewertet werden kann.“ Dazu führt der Gerichtshof aus, dass für die Feststellung eines missbräuchlichen Verhaltens nach Unionsrecht das Vorliegen des objektiven sowie subjektiven Tatbestandes erforderlich ist. In Erläuterung des subjektiven Tatbestandsmerkmals nennt er als wesentlichen Zweck der Handlung die Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils. Abzustellen sei auf die Absicht des Handelnden. So reiche zum Beweis u.a. der rein künstliche Charakter der fraglichen Handlung. Der EuGH verweist zur Feststellung, ob die Tatbestandsvoraussetzungen eines missbräuchlichen Verhaltens und damit einer Scheinbewerbung vorliegen, auf die nationalen Gerichte und die Beweisregeln des nationalen Rechts – wobei die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt werden dürfe.

Die Auswirkungen der Entscheidung

Mit dieser Entscheidung statuiert der EuGH die Scheinbewerbung als missbräuchliches Verhalten, das nicht von den einschlägigen Richtlinien umfasst ist. Für das nationale Recht bedeutet das, dass der persönliche Anwendungsbereich des § 6 AGG für Scheinbewerber*innen nicht eröffnet ist. Es obliegt den nationalen Richter*innen, dies festzustellen. Ob dies künftig als eine entscheidungserhebliche Vorfrage für Ansprüche nach dem AGG zu prüfen sein wird, bleibt abzuwarten. Anhand welcher Kriterien bleibt bis auf den künstlichen Charakter als möglichen Beweis einer Scheinbewerbung offen. Unklar bleibt, warum es einer Vorlage durch das BAG zu diesen Fragen bedürfte. Jedenfalls wurde die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte mit der Entscheidung des EuGH bestätigt. Denkbar ist, dass durch die Entscheidung ein strafrechtlich relevantes Verhalten für sogenannte AGG-Hopper begründbar gemacht werden soll.

In Anknüpfung an die Rechtsprechung des EuGH werden vermutlich in den nächsten Jahren weitere Kriterien auf Grundlage weiterer Einzelfälle entwickelt werden, um das Vorliegen einer Scheinbewerbung festzustellen. Dies kann aber gleichzeitig dazu führen, dass Maßstäbe gesetzt werden, die auch diejenigen treffen werden, die Diskriminierung erfahren haben und keinen ungerechtfertigten Vorteil aus einem Entschädigungsbegehren erlangen wollen. Was nicht passieren darf, ist dass jede*r Kläger*in erstmal den Verdacht ausräumen muss, Scheinbewerber*in zu sein. Wie kann aber eine nicht ernst gemeinte Stellenbewerbung überhaupt erkannt werden? Das ist die entscheidende Frage. Freilich kann hier auf die Missbrauchs-Kasuistik des Bundesarbeitsgerichts sowie der Instanzgerichte zurückgegriffen werden. Der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs ist ein gern erhobener Vorwurf des Gegners in Diskriminierungsverfahren und der Richter*innenalltag häufig von Erledigungsdruck geprägt. Umso wichtiger ist es, deutlich hervorzuheben, dass jedes durch die Rechtsprechung entwickelte Indiz auf Grundlage eines Einzelfalls in einem neuen Fall in völlig anderem Licht erscheinen kann. Auch gerät die Sensibilisierung der an einem Gerichtsprozess beteiligten Richter*innen und Rechtsanwält*innen erneut in den Blick, um eigene unter Umständen bestehende Vorannahmen und Stereotype zu hinterfragen und die Diversity-Kompetenz zu stärken.

Ist von Rechtsmissbrauch im Kontext des AGG die Rede, sollte darüber hinaus zum einen genau ermittelt werden, wie viele Fälle missbräuchlichen Verhaltens es tatsächlich gibt und zum anderen um welche Kläger*innen es sich dabei handelt. Die EuGH Entscheidung ist also nicht nur einen Anknüpfungspunkt für die Frage des Rechtsmissbrauchs im AGG Kontext, sondern bietet ebenso Anlass, sich mit effektiver Rechtsdurchsetzung und dem Zugang zum Recht nach 10 Jahren AGG zu befassen. Wer ist es, der über Rechtskenntnis und finanzielle Ressourcen verfügt und die nötige Ausdauer, Gerichtsprozesse zu führen, mitbringt? Und wer ist es eben nicht? Und welche negativen Auswirkungen haben Kriterien zur Ermittlung rechtsmissbräuchlichen Verhalten auf die effektive Rechtsdurchsetzung einer ernsthaften Bewerber*in mit Diskriminierungserfahrung?

Ohne Zweifel ist es wichtig, auf das existierende missbräuchliche Verhalten Einzelner durch Gerichte zu reagieren. Insofern ist die Entscheidung des EuGH zu begrüßen. Sie darf aber nicht dazu führen, dass die Maßstäbe an das Vorliegen einer Diskriminierung in der Rechtspraxis unangemessen erhöht werden.

 

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