#metoo. Und auch immer noch im Gerichtssaal.

In seinem Blogpost „Fischer, umgeben von Idioten“ vom 15. Februar 2015 nahm Maximilian Steinbeis, Gründer und Herausgeber des Verfassungsblogs, den sogenannten Impraktikabilitäts-Einwand genauer unter die Lupe, der häufig Einzug in die Debatte rund um die Reform des Sexualstrafrechts fand. „Was heißt schon Einverständnis?“, „Wie soll man das feststellen, wenn es an jedem äußeren, objektiv beweisbaren Zeichen fehlt, dass das Opfer das nicht wollte?“ „Steht dann da nicht immer Aussage gegen Aussage?“ Solche Fragen stellen sich die Zweifler, die Kontrahenten der Sexualstrafrechtsreform, wenn es um die Beweisbarkeit einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung vor Gericht geht.

Steinbeis musste diese Fragen nicht zu Ende eruieren. Er hat sich einen guten Zeitpunkt ausgesucht, um seinen Blogbeitrag zu veröffentlichen. Da war die Reform des Sexualstrafrechts noch Zukunftsmusik. Seit dem 10.11.2016 gilt nun aber „Nein heißt Nein“. Diese Fassung des Strafgesetzbuches soll zu einem „Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht“ geführt haben und setzt unter anderem Art. 36 der Istanbul-Konvention um.

Das Problem, so Steinbeis im Jahr 2015, dass Staatsanwaltschaften „wenig Lust verspüren, Ermittlungsverfahren eröffnen zu müssen, die mangels Beweisbarkeit nirgendwo hinführen“, ist jedoch meines Erachtens bis heute geblieben. Wie sieht also die Strafrechtspraxis heute aus?

Wie wird im Sexualstrafprozess mit der geschädigten Person umgegangen? Wie wird sie befragt?

An dieser Stelle ein kleiner Einwurf: Zwar übe ich Kritik an der rechtlichen Kategorie „Geschlecht“ und wünsche mir eine Gesellschaft, in welcher diskriminierende Geschlechtskonstruktionen keinen Platz haben. Allerdings kann ich den zu schützenden Personenkreis nicht ohne das binäre Merkmal „Geschlecht“ beschreiben.

In Fällen einer „Aussage gegen Aussage“-Konstellation hat der Bundesgerichtshof (BGH) in einer Reihe von Entscheidungen Anforderungen, u.a. in seinem Urteil vom 06. April 2016, an die Tragfähigkeit einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung statuiert.

So müssen „[d]ie Urteilsgründe (…) in solchen Fällen [„Aussage gegen Aussage“ Konstellationen] erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegung einbezogen und auch in eine Gesamtschau einbezogen und auch in einer Gesamtschau gewürdigt hat. Dabei sind gerade bei Sexualdelikten die Entstehung und die Entwicklung der belastenden Aussage aufzuklären“.

In einem sexualstrafrechtlichen Gerichtsverfahren herrscht demnach ein Interessenskonflikt zwischen der Wahrheitserforschung auf der einen und dem Persönlichkeitsschutz der Geschädigten* auf der anderen Seite, wie Susanne Franke, Vizepräsidentin und Vorsitzende Richterin einer großen Strafkammer des Landgericht (LG) Frankfurt aM, zu Recht auf dem Interdisziplinären Fachtag: „Opferschutz für kindliche und jugendliche verletzte Zeuginnen und Zeugen in Strafverfahren bei Sexualdelikten“ bemerkt.

Da in Sexualstrafprozessen die Konstellation „Aussage gegen Aussage“ vorherrschend ist, ist das maßgebliche Beweismittel dieser Prozesse die Vernehmung der Geschädigten*. Von erheblicher Bedeutung für das Ergebnis der Hauptverhandlung und vor allem für die geschädigte Person ist die Gestaltung des Fragerechts, nämlich wer der Opferzeugin* welche Fragen stellt und welche Fragen gestellt werden dürfen. Nach jetziger Gesetzeslage dürfen das so ziemlich genau alle Beteiligten des Gerichtsverfahrens. Also die Richter*innen, Schöffen, Staatsanwält*innen, Angeklagte und Verteidiger*innen, Nebenklagevertreter*innen und Sachverständige. Fragen, die allerdings „ungeeignet“ sind, oder „nicht zur Sache“ gehören, können durch den*die Vorsitzende Richter*in gem. § 241 II Strafprozessordnung (StPO) zurückgewiesen werden. Fragen nach „entehrenden“ Tatsachen und nach dem persönlichen Lebensbereich der geschädigten Person sind laut § 68a I StPO nur dann zu stellen, wenn sie unerlässlich sind.

Die Frage ist nun: Wann sind Fragen zum Sexualleben denn eigentlich unerlässlich? Und noch weiter gefragt: Wie kann sichergestellt werden, dass sexistisches, stereotypisierendes Gedankengut aus der Befragungspraxis vor Gericht verschwindet?

Aber erstmal einen Schritt zurück. Was passiert denn da eigentlich im Gerichtssaal?

Noch heute wird die Ansicht vertreten, dass dem sexuellen Verhalten der Geschädigten* vor und nach Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sowie allgemein in früheren Partnerschaften ein Indizwert zukommt und dass Fragen danach somit für die Aufklärung des Sachverhalts unerlässlich sind. Vor allem wenn der vermeintliche Täter geltend macht, dass es sich um einvernehmlichen Sexualkontakt gehandelt habe, ihn die Geschädigte* „verführt habe“, oder wenn die Tatfolgen bei der Geschädigten* und ihr Schweregrad zu beurteilen sind, sollen Fragen zum sexuellen Vorleben unerlässlich sein.

Für die Unerlässlichkeit der Fragen zur sexuellen Vergangenheit der Geschädigten* wird angeführt, dass nicht nur die objektiven Tatbestandsmerkmale der Tat gegen die sexuelle Selbstbestimmung, sondern auch die subjektiven Merkmale, also der Vorsatz des vermeintlichen Täters geprüft werden müssen. Das Gericht müsse entscheiden, ob der vermeintliche Täter im Tatkontext erkennen musste, dass die objektiv festgestellte Gegenwehr der Geschädigten* ernst gemeint war, schreibt Helmken (immerhin 1977, aber seien wir mal ehrlich, hat sich an dieser Denkweise seitdem so viel geändert? Ich will ja nicht schon wieder mit Fischer kommen, aber wenn ich lesen muss, was Fischer am 25. Oktober 2017 schreibt: „#MeToo: Ich auch! Ich auch! Tausende Opfer von Missbrauch und Erniedrigung melden sich öffentlich zu Wort. Ein großer Tabubruch? Oder eine neue Hysterie?“, dann… räusper).

Eine Bezeichnung für diese Art von Sexismus bei der Befragung der Geschädigten* gibt es, es spukt schon ein Weilchen umher: ich spreche vom Vergewaltigungsmythos der „vis haud ingrata“. Damit ist „nicht ganz unwillkommene Gewalt“ gemeint, nach der sich weiblich gelesene Menschen manchmal sehnen sollen.

Vor allem wenn die Geschädigte* im Vorfeld einvernehmlichen Sexualkontakt mit dem vermeintlichen Täter hatte, soll nicht verkannt werden, dass darauf bezogene Fragen für die Bestimmung der Sichtweise des vermeintlichen Täters „nicht unwesentlich“ sind. In Fällen, in denen der vermeintliche Täter gehört habe, dass die Geschädigte* „leicht zu haben, nicht nein sagen könne oder nymphoman veranlagt sei etc.“, soll laut Helmken die Befragung der Geschädigten* zu ihrem sexuellen Vorleben ebenfalls gerechtfertigt sein. Diese „wesentlichen Informationen“ würden dazu beitragen, herauszufinden, ob der verbale oder physische Widerstand der Geschädigten* vom vermeintlichen Täter hätte ernst genommen werden sollen.

Fragen zum Sexualleben der Geschädigten* seien weiterhin unerlässlich, da der Täter, der „ein bis dato unberührtes“ Opfer vergewaltige, härter bestraft werden solle, als wenn sich die Tat gegen eine „sexuell erfahrene Frau“, oder „um das andere Extrem zu nennen, eine Prostituierte“ richte, so Helmken. Zudem wird von ihr vor Gericht nur allzu oft das „richtige Auftreten“ erwartet. Es scheint immer noch die Vorstellung zu existieren, dass eine Person, die nicht ganz vor Gericht weint, wenn sie von der erlebten Straftat erzählt, weniger Hilfe braucht, vielleicht auch lügt und die Tat deshalb irgendwie weniger strafwürdig sei. Dass eine weiblich gelesene Person lügt, wenn sie von einer Sexualstraftat berichtet, ist übrigens auch ein Genderstereotyp!

Auch der Fachausschuss der Vereinten Nationen für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau, der die Umsetzung der entsprechenden Konvention prüft (CEDAW-Ausschuss), sieht stereotype Vorstellungen über die Geschlechter als Teil der Ursache von struktureller Diskriminierung und Ungleichheit. In Bezug auf Deutschland zeigt sich der Ausschuss in seinen abschließenden Bemerkungen zum letzten Staatenbericht Deutschlands unter Ziffer 25 (f) besorgt über „geschlechtsspezifische Stereotype und Mythen rund um das Thema Vergewaltigung innerhalb der Gesellschaft und bei Angehörigen der Rechtsberufe“.

Huch, da scheint ja wirklich was dran zu sein!

Aus dem BGH-Beschluss vom 13.05.2009 zu der Berücksichtigung von Opferschutzinteressen bei der Zeug*innenbefragung aus § 244 StPO und Art. 6 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) folgt zumindest, Fragen nach dem letzten Geschlechtsverkehr vor der Tat, den die Opferzeugin mit ihrem tatunbeteiligten Mann hatte, nicht gefragt hätten werden dürfen. Das verstoße gegen die Menschenwürde.

Huch, da ist ja also immer noch was dran!

Ich stellte im Laufe dieses Beitrages die Frage, wie sichergestellt werden kann, dass sexistisches, stereotypisierendes Gedankengut aus der Befragungspraxis vor Gericht verschwindet. Ich wage eine kurze, prägnante Antwort:

Von zentraler Bedeutung für die geschädigte Person in einem Sexualstrafprozess ist die Frage, wie mit ihr und ihrer Intimsphäre umgegangen wird. Die von Genderstereotypen und Vergewaltigungsmythen freie Gestaltung des Fragerechts vor Gericht ist dafür maßgeblich. Denn das sexuelle Vorleben lässt keinerlei Schlüsse auf das Einverständnis in der spezifischen Situation der Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu.

#metoo

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