Vieles weist darauf hin, dass der 36-jährige Oury Jalloh 2005 in einer Polizeizelle in Dessau mit Benzin überkippt und verbrannt wurde. An Händen und Füßen an einer feuerfesten Matratze gefesselt habe sich Jalloh mit einem Feuerzeug selbst angezündet, so die offizielle Version. Trotz zahlreicher Bemühungen von rassismuskritischen Menschenrechtsaktivist*innen, der Oury Jalloh Initiative und einem neuen Gutachten, in dem ein Suizid für extrem unwahrscheinlich erklärt wird, werden die Ermittlungen gegen diensthabende Polizisten*innen nicht wieder aufgenommen. Der Fall führt damit die Mechanismen struktureller Gewalt gegen Menschen of Color in Deutschland vor Augen. Dass diese auch im Widerspruch zu menschenrechtlichen Pflichten des deutschen Staates stehen, könnte bald in einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geklärt werden.
Ein Verfahren voller Widersprüche, Corpsgeist und Vertuschung
Am 7. Januar 2005 wurde Oury Jalloh an Händen und Füßen auf einer feuerfesten Matratze in eine Gewahrsamszelle in dem Polizeirevier Dessau gefesselt. In dieser Zelle wurde Jalloh einige Zeit später tot aufgefunden, sein Leichnam verbrannt. Bei dem eingeleiteten Verfahren wurde von Anfang an von einer Selbsttötung ausgegangen, obwohl Expert*innen aus relevanten Bereichen argumentierten, dass dies nicht möglich sei. Wahrscheinlicher sei ein Tod durch Fremdeinwirkung.
Die Staatsanwaltschaft Dessau erhob 2005 dennoch nur wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen gegen den Dienstgruppenleiter und einen weiteren Polizeibeamten wegen fahrlässiger Tötung Anklage. Während des Prozesses bestritten beide Polizisten die Vorwürfe und wurden 2008 freigesprochen. Widersprüche in der Darstellung der Tatsachen durch die Polizei, die Vernichtung von Beweismitteln und die Einseitigkeit der Ermittlungen waren wesentliche Gründe dafür. So wurde der Verdacht auf Brandbeschleuniger nicht ermittelt, obwohl Zeug*innenaussagen den Verdacht weckten. Auch das Verschwinden von Beweismitteln wurde hingenommen. Widersprüche bezüglich des Feuerzeugs, mit dem sich Jalloh angeblich selbstangezündet habe sowie die fehlende Videoaufnahme der Tatortsicherung und ein verschwundenes Fahrtenbuch legen es nahe, dass Beweise manipuliert worden sind, um einen Suizid vorzutäuschen.
Der Prozess wurde 2011 neu aufgerollt. Auch bei diesem Verfahren wurde von einer Selbsttötung ausgegangen, womit dem Prozess erneut eine unhaltbare These zugrunde gelegt wurde. Der Dienstgruppenleiter wurde wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen zu einer Geldstrafe verurteilt, bei dessen Zahlung er von seiner Polizeigewerkschaft unterstützt wurde. Kritik an den Ermittlungen zu dem Fall Oury Jalloh weist die Dessauer Staatsanwaltschaft zurück. Fragen zu den Umständen für Jallohs Tod bleiben jedoch auch bei diesem Urteil offen. Von Polizeigewalt in Dessau, die womöglich zuvor schon zwei weiteren Menschen das Leben gekostet hat, ging die Staatsanwaltschaft nicht aus.
Jahre nach den Verfahren berichtete ein Dessauer Polizist in einem Interview, dass Oury Jalloh auf der Polizeiwache wahrscheinlich von mindestens fünf Beamten verprügelt worden sei. Ein forensisch-radiologisches Gutachten von 2019 bestätigte, dass Jalloh einen Nasenbein-, Rippen- und Schädelbruch erlitt. Diese Verletzungen entstanden nach der Einlieferung auf das Polizeirevier und vor dem Tod Jallohs. Sie sprechen für den Brand als Mittel zur Vertuschung eines gewaltsamen Mordes. Außerdem wurde die Zelle in einem neueren Gutachten eines renommierten Brandexperten rekonstruiert und der Brandverlauf nachgestellt. Dieses Gutachten zeigt die erschreckende Realität des 7. Januar 2005. Darin ist zu sehen, dass der Zustand von Oury Jallohs Körper nur mit 2,5 Liter Benzin nachgestellt werden konnte. Ein Tod durch Fremdeinwirkung ist somit deutlich wahrscheinlicher als eine Selbstanzündung.
Deutschland versagt im Kampf gegen institutionellen Rassismus
Die Justiz geht im Fall Oury Jalloh konsequent von einer Selbsttötung aus und weigert sich, Hinweisen auf einen rassistisch motivierten Mord nachzugehen. Das veranschaulicht einen Widerspruch: Während Art. 3 GG gegen Diskriminierungsformen und dessen tödliche Folgen schützen soll, wird Opfern von rassistischer Polizeigewalt regelmäßig verwehrt, die Rolle von Rassismus bei der Begehung von Straftaten zu prüfen. So werden Schwarze Menschen aufgrund Ihrer rassistischen Zuschreibung in Ermittlungs- und Gerichtsverfahren nachteilig behandelt, indem ein Teil der Wahrheit nicht mitgedacht, zugegeben oder überhaupt ermittelt wird. Das ist institutioneller Rassismus; also „das Zusammenwirken von gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen, ihren Normen und Praktiken in der Produktion und Reproduktion von Rassismus“. Statt Rassismus lediglich als Fehlverhalten von Individuen zu sehen, wird so auf die gesellschaftlichen Mechanismen der systematischen Benachteiligung und Gewalt an Schwarzen Menschen und Menschen of Color hingewiesen.
Das Problem liegt nicht bei einzelnen Polizist*innen, sondern im kollektiven Schweigen und dem Desinteresse der Justiz an Beweisen für rechte Gewalt. Das Verfahren ist ein Lehrstück in puncto institutionellem Rassismus. Rassistische Kommentare der Polizist*innen wurden dokumentiert und Beweismittel vernichtet, doch eine Prüfung rassistischer Motive im Zusammenhang mit der möglichen Ermordung Jallohs fand nicht statt. Die Macht, Gewalt an hilflosen, alkoholisierten Menschen auszuüben, ohne mit ernsthaften Konsequenzen rechnen zu müssen und ein unerschütterliches Vertrauen in den Corpsgeist ergänzen sich zu Voraussetzungen, unter denen Polizist*innen am Dessauer Polizeirevier ohne Angst vor Konsequenzen Menschen töten oder verletzen können. Das Legalitätsprinzip verpflichtet die Strafverfolgungsbehörden eigentlich diesem Straftatverdacht nachzugehen. Auch die Staatsanwaltschaft hätte also alle Ermittlungsmöglichkeiten ausschöpfen müssen. Dass dies nicht getan wird ist kein Einzelfall, sondern ein strukturelles Problem.
Die Straflosigkeit der Polizei bei rassistischer Gewalt trägt zu dem Ohnmachtsgefühl und der Traumatisierung vieler Menschen of Color bei. Wenn Polizei, Staat und Justiz daran mitwirken, Vorgänge zu verharmlosen und zu vertuschen, wird weiteren Todesopfern und dessen Familien die Aufklärung der Umstände ihres Todes verwehrt. Menschen of Color sind dem Risiko besonders ausgesetzt, in Polizeigewahrsam und damit in staatlicher „Obhut“ zu sterben oder durch die Polizei getötet zu werden.
Um Auswirkungen von institutionellem Rassismus erkennen zu können, muss in Deutschland ein klares Verständnis von Rassismus vermittelt werden (vgl. insofern auch Art. 2 Abs. 1 ICERD). Das gilt vor allem für Menschen, die zukünftig als Teil der Justiz fungieren und über Fälle rassistischer Polizeigewalt entscheiden. Das heißt, dass ein umfängliches Verständnis von rassistischer Diskriminierung auch im Jurastudium Teil des Lehrplans sein muss und nicht weiterhin nur am Rande benannt werden kann. Hierbei geht es um Professionalisierung und nicht um Sensibilisierung. So können Kompetenzen vermittelt werden, um angemessene Maßnahmen gegen Diskriminierungen zu entwickeln und umzusetzen. Die Diversifizierung des Personals an Polizeistellen reicht nicht aus. Es wären unabhängige Beschwerdestellen, ein explizites Verbot von Racial Profiling, eine Dokumentationspflicht von Polizeikontrollen und eine unabhängige Ermittlungskommission zum Abbau von menschen- und grundrechtsverletzenden Praktiken nötig, um dieser Form des institutionellen Rassismus entgegenzuwirken. Sonst droht Menschen of Color neben struktureller Gewalt auch die institutionelle Straflosigkeit ihrer Täter*innen. Nur Untersuchungsmechanismen, die unabhängig von Polizei und Staatsanwaltschaft agieren, versprechen unparteiische und umfassende Ermittlungen.
Ein mögliches Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
Derzeit läuft eine Verfassungsbeschwerde der Angehörigen von Oury Jalloh in Karlsruhe gegen den Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft Halle vom Oktober 2017 und gegen den Prüfvermerk der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg vom November 2018, die Ermittlungen einzustellen. Sofern die Verfassungsbeschwerde erfolglos endet – wovon derzeit die Kläger*innen selbst ausgehen –, soll vor dem EGMR geklagt werden.
Der Gerichtshof hat sich in der Vergangenheit bereits mit einer Reihe von Fällen rassistischer Gewalt durch die Polizei befasst. In diesem Zusammenhang wurde auch akzeptiert, dass Diskriminierung aus Gründen der Rasse unter bestimmten Umständen selbst einer „erniedrigenden Behandlung“ im Sinne von Artikel 3, dem Verbot der Folter, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gleichkommen kann. Vor allem aber hätte nach dem Leitfaden zu Art. 14 EMRK die offizielle Untersuchung bei dem Verdacht, dass rassistische Einstellungen zu einer Gewalttat geführt haben, mit Nachdruck und Unparteilichkeit erfolgen müssen. Die staatlichen Behörden sind außerdem verpflichtet bei der Untersuchung gewalttätiger Vorfälle, die durch mutmaßliche rassistische Einstellungen ausgelöst wurden, alle angemessenen Maßnahmen zu ergreifen, um festzustellen, ob rassistische Motive vorlagen. Die Prüfung von eingesetztem Brandbeschleuniger, die Befragung zu rassistischen Motiven auf dem Polizeirevier sowie die Berücksichtigung rassistischer Aussagen der Beamt*innen, wären demnach verpflichtend. Dass im Fall Jallohs keine Prüfung rassistischer Motive stattfand, stimmt nicht mit diesen Vorgaben überein.
Deutlich wird, dass das rechtliche Vorgehen gegen Rassismus in Deutschland im Fall Jallohs aber auch darüber hinaus nicht ausreicht, um den menschenrechtlichen Verpflichtungen gerecht zu werden. Vielmehr wird durch ein kontinuierliches Wegschauen hinsichtlich eigener Verantwortung und der von dieser ablenkenden Kritik an Polizeigewalt in den Vereinigten Staaten ein falsches öffentliches Bild erzeugt, das rassistische Polizeigewalt in Deutschland bewusst auslässt. Durch institutionelle Straflosigkeit und das Fehlen unabhängiger Ermittlungen, bleibt die tödliche Gefahr des Rassismus bestehen und Angehörigen, wie der Familie Jallohs, bleibt die geforderte Aufklärung verwehrt. Obwohl die Ermittlungen im Fall Jallohs Rassismus und Polizeigewalt nicht thematisierten, steht für viele fest: Mit schweren Körperverletzungen, an Händen und Füßen an einer Matratze gefesselt mit Benzin überkippt und angezündet, das war Mord. Würde Deutschland seine menschenrechtliche Verantwortung aus Art. 14 EMRK wahrnehmen und den Zusammenhang zwischen rassistischen Einstellungen und Gewalttaten auch innerhalb der Polizei beachten, hätte wegen eines entsprechenden Mordverdachts ermittelt werden müssen.