Viele demokratische Gesellschaften sind heute stolz auf ihre aufgeklärte Haltung gegenüber Andersgläubigen. Die Zeiten religiöser Abneigung, heißt es, etwa in Form von Religionskriegen oder Antisemitismus seien vorbei. Religiöse Herrschaft und Gewalt gebe es nur noch in vermeintlich ,,rückständigen’’ Gesellschaften, also weit entfernt von modernen Sozialdemokratien Europas – so das Selbstbild. Ereignisse, wie das antimuslimische Attentat in Neuseeland verdeutlichen jedoch, dass religiöse Intoleranz auch in vermeintlich modernen Gesellschaften ein Problem ist. Das zeigt sich jenseits fanatischer rassistischer Gewalt auch in staatlichen Institutionen wie Schulen und Gerichten.
Das Kopftuch an Schulen – eine niemals endende Debatte
Bereits 2003 klagte eine Lehrerin aus Baden-Württemberg beim Bundesverfassungsgericht gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, welches bestätigte, dass „die Einstellung als Lehrerin […] im Beamtenverhältnis […] abgelehnt werden [darf], wenn die Bewerberin nicht bereit ist, im Unterricht auf das Tragen eines islamischen Kopftuches zu verzichten“. Als Begründung wurde angegeben, dass der Klägerin mangels Verzicht auf das Tragen eines Kopftuches „die Bereitschaft, das Neutralitätsgebot zu achten“ fehle. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die Behörde eine eindeutige gesetzliche Grundlage benötige, um derart in die Grundrechte der Klägerin eingreifen zu können.
Folge dieser Entscheidung waren zahlreiche Neuregelungen, die das zulässige Ausmaß religiöser Bekundungen in der Schule regelten. Häufig zum Nachteil der Religionsfreiheit von Lehrkräften, wobei teilweise nur ein Verbot des islamischen Kopftuches festgelegt wurde, während „christliche und abendländische Traditionen, Bildungs- und Kulturwerte“ erlaubt sein sollten.
Daraufhin erklärte das Bundesverfassungsgericht 2015 ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrer*innen für verfassungswidrig. Die Richter_innen betonten, dass wenn „äußere religiöse Bekundungen durch Pädagoginnen und Pädagogen in der öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule zum Zweck der Wahrung des Schulfriedens und der staatlichen Neutralität gesetzlich untersagt [werden], […] dies für alle Glaubens- und Weltanschauungsrichtungen grundsätzlich unterschiedslos geschehen [muss]“.
Trotz dieser klaren Entscheidungen tun sich Länder, wie das Land Berlin schwer mit der Umsetzung des Urteils. So hält Berlin immer noch an seinem Neutralitätsgesetz fest und verbietet Lehrer*innen aufgrund ihres Kopftuches das Unterrichten an Berliner Schulen. Nachdem das Landesarbeitsgerichts Berlin einer Lehrerin eine Entschädigung zusprach, weil diese aufgrund ihres Kopftuches nicht in den Schuldienst eingestellt wurde, hat das Land Berlin nun Revision beim Bundesarbeitsgericht eingelegt. Der Ausgang bleibt abzuwarten.
Das Kopftuch im Gerichtssaal
Ähnliche Diskussionen wie im Bereich der Schule gibt es mittlerweile auch, wenn es um das Tragen eines Kopftuches von Rechtsreferendar*innen im juristischen Vorbereitungsdienst geht. Jüngst entschied der Bayerische Verfassungsgerichtshof, dass „Richter und Richterinnen […] in Verhandlungen, sowie bei allen Amtshandlungen mit Außenkontakt keine sichtbaren religiös oder weltanschaulich geprägten Symbole oder Kleidungsstücke tragen [dürfen], die Zweifel an ihrer Unabhängigkeit, Neutralität oder ausschließlichen Bindung an Recht und Gesetz hervorrufen können’’. Das Grundrecht der Amtsträger*innen auf freie Bekundung ihres Glaubens stünde im Widerstreit zur negativen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Prozessbeteiligten und zur Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität. Das verfassungsrechtliche Gebot der Neutralität der Gerichte werde beeinträchtigt, wenn Repräsentant*inen des Staates in Gerichtsverhandlungen oder bei sonstigen Amtshandlungen mit Außenwirkung religiös oder weltanschaulich konnotierte Kleidungsstücke oder Symbole tragen. Insbesondere könne dies zu Zweifeln daran führen, ob die Entscheidung des Rechtsstreits ausschließlich nach Maßgabe des geltenden Rechts und ohne Einfluss persönlicher religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen erfolgt sei.
Die staatliche Neutralität bezieht sich also im Wesentlichen auf das neutrale Aussehen einer Richterin/ eines Richters und nicht auf ihre/ seine tatsächliche Amtsführung? Ein/e Richter*in ohne Kopftuch kann demnach kaum Zweifel an ihrer/ seiner Unvoreingenommenheit hervorrufen, während eine Kopftuch tragende Richterin niemals neutral sein kann? Das scheint ein falscher Anknüpfungspunkt zur Beurteilung der Neutralität einer Person zu sein. Vielmehr zeigen sich innerliche Unabhängigkeit und die Bindung an geltendes Recht in Urteilen einer Richterin/ eines Richters, anstatt in ihrem/ seinem äußeren Erscheinungsbild. Selbst wenn man in einem Verfahren davon ausginge, dass eine Kopftuch tragende Richter*in sich bei der Urteilsfindung von religiösen Vorgaben leiten lässt, könnte man diesem Problem durch einen Befangenheitsantrag begegnen und die Richter*in ablehnen. Durch ein pauschales Kopftuchverbot besteht allerdings nicht einmal die Möglichkeit, dass sich solche Vorkommnisse überhaupt zeigen können.
Islamisch religiöse Symbole als kategorische Bedrohung
Im Gegensatz zu christlichen und abendländischen Traditionen wird das Kopftuch in all diesen Debatten nicht als kulturelles, sondern als politisches Symbol wahrgenommen, welches den sozialen Frieden abstrakt gefährdet. Islamisch religiöse Praktiken gelten als kategorische Bedrohung für die öffentliche Ordnung – unabhängig davon, ob eine solche nachgewiesen werden kann. Dieses Vorgehen erinnert mehr an polizeiliche Gefahrenabwehr, als an Grundrechtsschutz.
Umgekehrt wird die mögliche Unvereinbarkeit von christlich religiösen Werten mit Demokratie, Gleichheit und Toleranz nie in Frage gestellt. So erklärt sich auch, warum das Aufhängen von Kreuzen in Klassenzimmer und Gerichtssälen weiter als unproblematisch gilt.
Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen oder doch eher religiöse Intoleranz?
Es bleibt also festzuhalten, dass fortschrittliche Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht ignoriert und stattdessen immer wieder ideologisch aufgeladene Debatten über religiöse Kleidungsstücke geführt werden, die in einer religiös-pluralen Gesellschaft weder zielführend noch argumentativ haltbar scheinen.
Das Grundgesetz steht somit einerseits für „Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen“ und andererseits erteilen Gerichte mit Entscheidungen, wie den oben skizzierten, religiöser Intoleranz eine staatliche Legitimation.