Reproduktive Rechtlosigkeit als menschenrechtliches Problem

Die erste Regel für einen gelungenen Blogbeitrag lautet, dass er anhand eines aktuellen Anlasses eine generelle Problematik entfaltet. Der folgende Beitrag wird mit dieser Regel brechen. Er tut das nicht, um die Geduld der Leser*innen auf die Probe zu stellen. Reproduktive Rechtlosigkeit ist ein alltäglicher Zustand in Deutschland – und ein menschenrechtliches Problem.

Die Austragungspflicht

Schwangere Frauen in Deutschland unterliegen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts einer Austragungspflicht. Der Embryo in der Gebärmutter wird als “das menschliche Leben” konstruiert, welches vom Staat zwingend zu schützen sei. Der Schwangeren wird dagegen nur ein schwach konturiertes Persönlichkeitsrecht zugestanden, will sie sich doch vor ihren “natürlichen mütterlichen Pflichten” drücken. Dass die verfassungsrechtliche Austragungspflicht wenig bekannt ist, dürfte daran liegen, dass sie derzeit nicht durchgesetzt wird: Der Schwangerschaftsabbruch ist faktisch innerhalb der ersten drei Monate und mit ärztlicher Unterstützung auch danach möglich. Die Schwangere muss sich zuvor einer auf Austragung gerichteten Beratung unterziehen und sie begeht Unrecht, das lediglich nicht bestraft wird.

Reproduktive Menschenrechte

Die Annahme einer Austragungspflicht als massiver Eingriff in die körperliche und seelische Integrität sowie in die sexuelle und persönliche Autonomie und Menschenwürde (die Frau wird auf ihre Gebärmutter reduziert) erstaunt nicht nur mit Blick auf das Grundgesetz, sondern mehr noch das internationale Recht.

Artikel 16 Absatz 1 lit. e der UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) garantiert Frauen gleiches Recht auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über die Anzahl und den Altersabstand ihrer Kinder sowie auf Zugang zu den für die Ausübung dieses Rechts erforderlichen Informationen und Mitteln (ebenso Artikel 14 Absatz 2 lit. b African Women’s Protocol). Restriktive Regelungen über Verhütungsmittel oder Schwangerschaftsabbrüche stellen daher auch eine erheblich rechtfertigungsbedürftige Diskriminierung auf Grund des Geschlechts dar. Diese Diskriminierung kann sich intersektional verstärken. Konsequent statuiert Artikel 23 Absatz 1 lit. b Behindertenrechtskonvention (BRK) die genannten Rechte nahezu wortgleich für Menschen mit Behinderungen.

Weitere explizite Regelungen sind rar. Staaten verzichten ungern auf die Kontrolle über Bevölkerungspolitik und weibliche Körper. Diverse treaty bodies (CEDAW-Ausschuss, HRC und CESCR, Parliamentary Assembly) haben jedoch einen recht einheitlichen Katalog reproduktiver Rechte entwickelt, der auf verschiedenen Menschenrechtsverträgen, u.a. Artikel 3, 6, 7, 26 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR), Artikel 16 CEDAW, Artikel 12 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR), gründet. Danach treffen die Staaten umfassende Garantiepflichten: voller und diskriminierungsfreier Zugang zu allen Methoden der Familienplanung, einschließlich (bezahlbarer!) Verhütungsmittel, altersgerechte und geschlechtersensible Sexualerziehung an Schulen und allgemeine Aufklärung, umfassende Gewährleistung reproduktiver Gesundheit und tatsächlicher Zugang zu sicherer und legaler Abtreibung.

Reproduktive Rechtlosigkeit in Deutschland

In Deutschland müssen Verhütungsmittel privat finanziert werden; im ALG II-Satz sind sie nicht vorgesehen. In die Erforschung weniger schädigender Methoden als der Pille wird nicht investiert. Krankenkassen tragen nur die Kosten „indizierter“ Schwangerschaftsabbrüche. Umgekehrt wird Reproduktion aktiv unterbunden: Nicht wenige Menschen mit Behinderungen wurden bis in die jüngste Vergangenheit regelmäßig sterilisiert und werden weiterhin unter Druck gesetzt, keine Kinder zu bekommen. Bis 2011 war Fortpflanzungsunfähigkeit der Preis für die rechtliche Anerkennung von Transgender. Noch immer werden Intersex*-Kleinkinder geschlechtsanpassenden Operationen mit der Folge der Fortpflanzungsunfähigkeit unterzogen. Ein Fortpflanzungsmedizingesetz wie in der Schweiz oder in Österreich existiert für Deutschland nicht. Berufsverbände (Ärztekammern) und finanzielle Möglichkeiten (Ausland) entscheiden, ob Menschen Zugang zu Reproduktionsmedizin haben oder nicht. Nicht wenige Angehörige des medizinischen Personals glauben überdies, Gesundheitsversorgung stehe unter ihrem persönlichen Gewissensvorbehalt. Die Diskrepanzen zu menschenrechtlichen Anforderungen sind nicht zu übersehen.

Die Erzwingung der Austragung durch Private

Es scheint leicht, die deutsche Situation nicht allzu ernst zu nehmen, weil die Verletzung reproduktiver Rechte anderswo doch viel gravierender sei. Verschiedene Staaten mussten in etlichen schwerwiegenden Fällen an ihre Pflicht erinnert werden, den tatsächlichen Zugang zu legaler und sicherer Abtreibung zu garantieren. Private Dritte hatten – teilweise erfolgreich – versucht, legale Schwangerschaftsabbrüche bei erheblicher Gesundheitsgefahr für die Mutter (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR) oder sicherem Tod des Fötus (Human Rights Committee, HRC) sowie für vergewaltigte Minderjährige (Committee on the Rights of the Child, EGMR, HRC) zu verhindern. Das geschilderte tatsächliche Geschehen lässt verständlich erscheinen, warum feministische Menschenrechtler*innen und auch der EGMR das staatliche Unterlassen in diesen Fällen als Verstoß gegen das Folterverbot werten.

Die privaten Dritten berufen sich regelmäßig auf ihre moralischen und religiösen Überzeugungen und auf den aus ihrer Sicht ungenügenden staatlichen Schutz menschlichen Lebens. Letzteres überzeugt zumindest aus internationalrechtlicher Sicht nicht. Die UN-Kinderrechtskonvention ist kein Embryonenschutzvertrag. Sie schützt Kinder, also Minderjährige ab der Geburt. Auch der EGMR hat bisher die Übernahme des verfassungsgerichtlichen Lebensschutzverständnisses vermieden. Die Religions- und Meinungsfreiheit umfassen selbstverständlich das Recht, autonome Familienplanung und reproduktive Gesundheit abzulehnen. Nicht geschützt ist der Versuch, andere Menschen zu zwingen, nach den eigenen Überzeugungen zu leben.

Reproduktive Rechte durchsetzen!

Der EGMR sah es als zulässig an, Aktivitäten vor einer Abtreibungsklinik, die Frauen von einem Schwangerschaftsabbruch abhalten sollten, zu unterbinden. Auch können sich Apotheker*innen nicht auf ihre Religionsfreiheit berufen, um den Verkauf von Verhütungsmitteln zu verweigern. Der CEDAW-Ausschuss erinnert immer wieder daran, dass Krankenhäuser Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen wollen, nicht mit Verweis auf religiöse Vorbehalte des medizinischen Personals abweisen können. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte die Zulässigkeit polizeirechtlicher Maßnahmen gegen eine „Gehsteigberatung“ vor einer Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle, da die religiöse Überzeugung nicht kundgetan, sondern den besonders verletzlichen Betroffenen aufgedrängt werden sollte. Unter der Annahme einer verfassungsrechtlichen Austragungspflicht ist ein solches Urteil allerdings dogmatisch nicht ganz einfach herzuleiten.

Eine Gesellschaft, die eine (höchstrichterliche) Austragungspflicht kennt, hat keine Chance auf Geschlechtergerechtigkeit. Der deutsche Rechtsdiskurs verwehrt Frauen, Männern und anderen Menschen Integrität und Autonomie in einem höchstpersönlichen Bereich. Er ist schlecht gewappnet gegen Versuche Privater, ihre Lebensweise anderen aufzuzwingen. Mit einigen praktischen Kompromissen und viel Ignoranz ist die Debatte um reproduktive Rechte in Deutschland still geworden. Es ist an der Zeit, „the right of all human beings, in particular women, to respect for their physical integrity and to freedom to control their own bodies“ wieder zu mehr Durchsetzung zu verhelfen.

Rassismus bei der Wohnungssuche
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