Auch Sexarbeit ist Arbeit!

Am 05.08.2016 ist ein Urteil des Sozialgerichts Hamburg (Az.: S 36 U 118/14) rechtskräftig geworden, was für Sexarbeiter*innen wegweisend sein wird. Das Gericht stufte den Unfall einer Sexarbeiterin als Arbeitsunfall ein, für welchen nun die gesetzliche Unfallversicherung aufzukommen hat. Die Entscheidung setzt die Grundlage, dass Sexarbeiter*innen die gleichen Rechte aus der Sozialversicherung geltend machen können wie alle anderen Arbeitnehmer*innen. Dass die Arbeit von Sexarbeiter*innen vorher als solche nicht anerkannt war, ist ein Skandal.

Wie kam es zu dem Unfall?

2012 las die Klägerin in einer Anzeige von dem Job als Prostituierte eines Escort-Services in Hamburg. Daraufhin reiste sie nach Deutschland, um dieser Arbeit nachzugehen und sich ihr Studium zu finanzieren. Der Arbeitsvertrag sah vor, dass sie die Hälfte ihres Lohns an ihren Arbeitgeber auszurichten habe, sie 24 Stunden am Tag zur Verfügung stehen müsse und ihr eine Wohnung, Essen, Arbeitskleidung, Flugtickets, Papiere und Werbung gestellt werden würde. Sie arbeitete daraufhin in verschiedenen von ihrem Arbeitgeber angemieteten Wohnungen und in einem Club. Die Kontaktperson ihres Arbeitgebers, ein Mann, wurde im Laufe der Zeit jedoch immer aufdringlicher. Zum Ende hin wich er ihr nicht mehr von der Seite und sie musste sexuelle Handlungen an ihm, unbezahlt und auch gegen ihren ausdrücklichen Willen, vornehmen. Eines Tages sperrte er sie schließlich in einer der angemieteten Wohnungen ein, mit dem Versprechen bald wiederzukommen und sich um ihre Papiere zu kümmern. Zwei Tage lang geschah nichts. Schließlich stieß sie in einem Internetforum auf einen Bericht einer anderen Frau, die eine ähnlich schlimme Erfahrung mit dem besagten Mann gemacht hatte. Sie beschloss, sich aus dieser Situation zu befreien und sprang aus dem Fenster. Dabei erlitt sie schwere Verletzungen am unteren Rücken und an den Beinen.

Ein Beschäftigungsverhältnis ohne Zweifel

Die Verletzte machte nun einen Arbeitsunfall geltend. Die zuständige Berufsgenossenschaft jedoch lehnte ab. Ihr Argument: Sie gehöre nicht zum Versichertenkreis des Sozialgesetzbuches (SGB).

Das Hamburger Gericht sah dies anders. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII sind Beschäftigte von der gesetzlichen Unfallversicherung gedeckt. Eine Person ist dann beschäftigt, wenn sie einer nichtselbständigen Arbeit nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IV nachgeht. Dabei ist das Beschäftigungsverhältnis nicht von einem gültigen Arbeitsvertrag abhängig, sondern es kommt auf die tatsächlichen Verhältnisse an. Es ist festzustellen, ob der Unternehmer die Verfügungsgewalt über die Arbeitskraft innehatte. Entscheidend ist daher die persönliche Abhängigkeit der beschäftigten Person von der*m Arbeitgeber*in. Kriterien für ein solches Abhängigkeitsverhältnis sind die Eingliederung in eine fremde Arbeitsorganisation und die Unterordnung unter das Weisungsrecht der*s Arbeitergebers*in, insbesondere bezüglich der Zeit, Dauer und Art der Arbeitsausführung. Auch muss keine leistungsunabhängige Vergütung vereinbart worden sein.

Das Gericht erkannte eine abhängige Beschäftigung zweifelsfrei als gegeben an. Insbesondere grenzten die Hamburger Richter*innen die Art der Arbeitsausführung der Klägerin von der einer selbständigen Sexarbeiter*in ab. Dieses sei gegeben, wenn die Person selbst das unternehmerische Risiko der Geschäfte trage, über ihre Arbeitskraft selbst verfüge und ihre Arbeitstätigkeiten und Zeiten selbst bestimme. Zudem betonte das Gericht, dass die Klägerin zwar ohne gültige Arbeitspapiere ihrer Beschäftigung nachging, dieses verbotswidrige Handeln den Versicherungsschutz allerdings nicht ausschließe, § 7 Abs. 2 SGB VII.

Warum ist das Urteil wegweisend?

Die Umstände, unter denen die Klägerin arbeiten musste, sind zwar schockierend. Dennoch oder vielmehr gerade deswegen, muss sie ein Recht auf dieselben Leistungen wie andere Arbeitnehmer*innen haben. Das Urteil ist für Sexarbeiter*innen deshalb so entscheidend, weil das Klischee im Raum stand, Prostituierte seien immer als Selbständige zu behandeln. Dieses Vorurteil sollte eigentlich schon § 3 des Prostitutionsgesetzes aus der Welt schaffen, der Folgendes besagt: Bei Prostituierten steht das eingeschränkte Weisungsrecht im Rahmen einer abhängigen Tätigkeit der Annahme einer Beschäftigung im Sinne des Sozialversicherungsrechts nicht entgegen. Mit dem rechtskräftigen Urteil ist nun klar, dass es auch abhängig Beschäftige in dieser Branche gibt und sie somit unter den Anwendungsbereich vieler Leistungen des Sozialgesetzbuches fallen. Insbesondere die Betroffenen von Arbeitsausbeutung und/oder Menschenhandel können davon profitieren. Für diese Personengruppe war es bisher besonders schwierig eine Entschädigung für ihre Verletzungen zu erhalten. Selbst wenn die*der Täter*in zu Schmerzensgeld verurteilt werden würde, gibt es bei diesen Personen finanziell oft nicht viel zu holen. In solchen Fällen soll der Staat als Anspruchsgegner nach dem Opferentschädigungsgesetz einspringen. Allerdings sind die Anforderungen an einen solchen Anspruch sehr viel höher, da ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs. 1 OEG vorliegen muss.
Die Klage wurde durch einen Rechtshilfefonds des Deutschen Instituts für Menschenrechte finanziert, welches zu diesem Thema auch eine Handreiche für Beratungsstellen veröffentlicht hat.

Rassismus – (K)ein Mordmotiv im Prozess gegen Rolf Z.
The PILP (Public Interest Litigation Project) case against arms trade