Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 3. Oktober 2017 den lange praktizierten „Push-Backs“ in der spanischen Exklave Melilla eine klare Absage erteilt und ein deutliches Urteil in Hinsicht auf die Anwendbarkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Behandlung von Personen an EU-Außengrenzen gefällt. Für Zündstoff sorgen vor allem die Themen zu denen der EGMR weiterhin schweigt und ein teilweise abweichendes Sondervotum.
Das Urteil des EGMR
Im Fall zweier geflüchteter Männer aus Mali und der Elfenbeinküste hat Straßburg gleich mehrere Verstöße gegen Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention festgestellt. Massenhafte Zurückschiebungen in Grenzgebieten ohne jegliches (Identifikations-) Verfahren („Push-Backs“) verstoßen nicht nur gegen das Verbot der Kollektivausweisung, sondern auch gegen das Recht auf wirksame Beschwerde. Berührt ist ein zentrales Thema der Migrationsfrage: Wo endet das staatliche Souveränitätsinteresse im Hinblick auf eigene Grenzschutzpraktiken und wo beginnen die Rechte von Geflüchteten?
Der Sachverhalt
Die im Urteil nur N.D. und N.T. genannten Beschwerdeführer befanden sich vor der versuchten Grenzüberschreitung bereits in inoffiziellen Flüchtlingscamps in Marokko. Anfang August 2014 kletterten die beiden Männer zusammen mit 60-80 anderen Geflüchteten über die Grenzzäune der Exklave Melilla bevor sie von spanischen Mitgliedern der Guardia Civil aufgehalten und mithilfe der marokkanischen Sicherheitskräfte gewaltsam zurückgeführt und gegen ihren Willen ins Landesinnere zurücktransportiert wurden. Zu keinem Zeitpunkt der Aktion wurde ein Identifikationsprozess durchgeführt oder medizinische geschweige denn juristische Hilfe angeboten. Durch die Filmaufnahmen von Journalisten gelangte der Fall auf Initiative des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) schließlich vor den EGMR.
Die Position des EGMR
Die Argumentation des EGMR ist durchaus einleuchtend und stringent. Direkt zu Beginn stellt er eindeutig fest, dass die Europäische Menschenrechtskonvention in derartig gelagerten Fällen anwendbar ist (Rn. 55). In dem Moment, in dem die Männer den Grenzzaun hinauf- und wieder herunterkletterten befanden sie sich nicht nur de facto, sondern auch de iure unter spanischer Kontrolle (Rn. 53). Auf dieser Grundlage thematisiert der EGMR die zentrale Frage einer Verletzung des Verbots der Kollektivausweisung, die in Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK normiert ist. Eine Ausweisung sieht er unzweifelhaft als gegeben an, wobei unbeachtlich sei, ob die Geflüchteten jemals tatsächlich spanischen Boden berührt hätten, denn nach der obigen Argumentation ist der Anwendungsbereich der EMRK auch in Grenzgebieten eröffnet (Rn. 105). Da es zu keinem Zeitpunkt Identitätsfeststellungen der 60-80 Geflüchteten oder die Möglichkeit auf rechtliches Gehör gegeben habe, stellt der EGMR auch den Kollektivcharakter der Ausweisung fest und somit eine Verletzung der EMRK (Rn. 107). Hierin sieht auch ECCHR-Mitarbeiterin Hanaa Hakiki in ihrer Urteilsbesprechung im Kontext zu füheren ähnlich gelagerten Fällen (etwa Hirsi v. Italy oder Khlaifia v. Italy) im Hinblick auf Massenausweisungen eine wichtige Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung des EGMR, die die Einrichtung eines Identifikationsverfahrens unabdingbar machen soll. Zum Schluss hält er auch eine Verletzung des Rechts auf wirksame Beschwerde aus Art. 13 EMRK fest, da infolge der nicht vorgenommenen Identifikation jeder der Geflüchteten einer möglichen Beschwerde oder Klage beraubt wurde (Rn. 112).
Rechte von Migrant_innen vs. Grenzschutzpraktiken
Das Urteil könnte ein Wendepunkt in der Diskussion um den Schutz europäischer Außengrenzen bedeuten. Geflüchtete sind in Marokko bei dem Versuch der Grenzüberquerung nach Melilla oder Spaniens zweiter Exklave Ceuta seit Jahren Gewalt und institutionellem Rassismus ausgesetzt, da die Methode der Push-Backs inoffiziell und außerhalb von verfahrensrechtlichen Strukturen durchgeführt wurde. Faktisch handelte es sich in den Grenzgebieten so um einen rechtsfreien Raum, den Grenzsoldaten nach Angaben des ECCHR und des Menschenrechtskommissars teilweise ausnutzten, um übermäßige Gewalt bei der Rückführung anzuwenden. Die neue Rechtsprechung des EGMR wird diesen Praktiken hoffentlich einen Riegel vorschieben, indem sie auch Menschen an EU-Außengrenzen ein „Recht auf Rechte“ verleiht und Rechtsverletzungen in diesem Raum konsequent verfolgt. Betroffen sein wird davon jedoch offensichtlich das spanische Recht auf eigenen Grenzschutz. Nach einem königlichen Dekret war eine illegale Grenzüberschreitung bisher als „nicht geschehen“ zu betrachten und die auf diese Weise in das Land gekommenen Geflüchteten problemlos abschiebbar, da sie nach spanischem Gesetz nie europäischen Boden betreten hatten. Spanien wird weiterhin das Recht eigener Grenzsicherungsregeln behalten, diese werden allerdings in Zukunft die Menschenrechtskonventionen und Unionsrecht achten müssen.
Doppeltes Schweigen und ein Sondervotum
Bemerkens- und erwähnenswert bleibt indes, dass sich der EGMR zu zwei von Spanien vorgetragenen Argumenten jedoch (aus verschiedenen Gründen) überhaupt nicht äußert. Zunächst die aufgeworfene Frage, ob der Status der Männer als Geflüchtete eine Einschränkung des Verbots der Kollektivausweisung bedeutet (Par. 82). Eine solche Beschränkung wäre aus dem Wortlaut des Art. 13 4. ZP EMRK allerdings unmöglich herauszulesen. Dass der Status der Männer als Geflüchtete keine Rolle spielt, bestätigt der EGMR richtigerweise, indem er in seinem Urteilsspruch gar nicht erst darauf eingeht. Die zweite Frage betrifft das an mehreren Stellen vorgebrachte Argument der Regierung, dass eine Kollektivausweisung schon deshalb nicht vorliegen könne, weil die Männer versucht hatten, auf illegalem Wege einzudringen, obwohl offizielle Anlauf- und Asylantragsstellen bereitgestanden hätten (Par. 74,79). Illegale Einwanderungen widersprächen der Konvention und würde man sie derart schützen, hätte das katastrophale Folgen für die Flüchtlingssituation. Die Anlaufstelle, die Spanien erwähnt, ist das 2014 in Beni-Enzar gegründete Büro für internationalen Schutz. Die Beschwerdeführer gaben jedoch an, dass sie nie eine Möglichkeit hatten, einen Asylantrag zu stellen. Das bestätigen auch der Menschenrechtskommissar und der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge in einer offiziellen Drittintervention, da die Anlaufstelle nur für syrische Geflüchtete offenstehe. Das Committee for the Prevention of Torture gab eine eindeutige Empfehlung zur Einrichtung eines besseren und effektiveren Registrierungsverfahrens ab, leider verpasst es der EGMR, sich dahingehend zu äußern. Hingegen äußert sich Dmitry Dedov, der in einem seltsam anmutenden teilweise abweichenden Sondervotum zwar die Konventionsverletzung bestätigt, jedoch hervorhebt, dass die Grenzsoldaten geschockt gewesen seien, als die Grenze attackiert wurde und letztlich auch nur „Menschen wie wir“ wären. Zum Schluss stellt er die Frage, wer in der Situation die Verletzlicheren waren, denn die Opfer hätten die Grenze schließlich in einem zweiten späteren Versuch erfolgreich überquert und könnten sich demnach nie wirklich in einer Notfallsituation für Leben und Gesundheit befunden haben. Dass auch Grenzsoldaten Gefühle und Ängste haben ist sicherlich richtig, doch an dieser Stelle sollte man sich daran erinnern, dass „Menschen wie wir“ nicht nur auf einer Seite des Zauns stehen.