„Wir sind ein Volk“? Warum wir Rechtsschutz gegen die Diskriminierung als „Ossi“ brauchen

Pünktlich zum 30jährigen Wendejubiläum entscheidet das Arbeitsgericht Berlin: Beschäftigte, die wegen ihrer ostdeutschen Herkunft diskriminiert werden, dürfen sich nicht auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) berufen. Das liegt nicht daran, dass Ostdeutsche nicht diskriminiert werden, sondern dass das Stigma „ostdeutsch“ antidiskriminierungsrechtlich in keine Schublade passt.

Die Herabwürdigung eines Mitarbeiters wegen seiner ostdeutschen Herkunft ist keine Benachteiligung im Sinne des § 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) wegen der ethnischen Herkunft oder Weltanschauung. So entschied Ende August 2019 das Arbeitsgericht Berlin. Der Kläger war als stellvertretender Ressortleiter in einem Zeitungsverlag beschäftigt. Er nahm den Arbeitgeber auf Entschädigung und Schadensersatz in Anspruch, weil er von zwei vorgesetzten Mitarbeitern wegen seiner ostdeutschen Herkunft stigmatisiert und gedemütigt worden sei. Das Arbeitsgericht Berlin wies die Klage ab. Menschen ostdeutscher Herkunft seien weder Mitglieder einer ethnischen Gruppe noch Träger einer einheitlichen Weltanschauung. Vor ihm entschieden so unter anderem schon das Arbeitsgericht Stuttgart, das Arbeitsgericht Würzburg und das Hessische Landesarbeitsgericht. Wir haben es also mit gefestigter Rechtsprechung zu tun.

Auch die Literatur ist einhellig. „Wir sind ein Volk – auch antidiskriminierungsrechtlich“, bringt der Bonner Arbeitsrechtler Gregor Thüsing die herrschende Meinung in seiner Kommentierung von § 1 AGG im Münchner Kommentar auf den Punkt. § 1 AGG enthält einen abgeschlossenen Katalog von Diskriminierungskategorien. Das Gesetz schützt vor „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität.“ Es setzt vier Antidiskriminierungsrichtlinien der Europäischen Union um, die die wichtigsten Antidiskriminierungsmerkmale umfassen. Von Ostdeutschen steht da nichts. Heißt das, dass Ostdeutsche nicht diskriminiert werden?

Werden Ostdeutsche diskriminiert? Noch Fragen?

Kurz nach dem Urteil des Arbeitsgerichts Berlin veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung seine neueste Studie zur Vermögensverteilung in Deutschland. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung haben Ostdeutsche nicht einmal halb so viel Vermögen wie Westdeutsche. Berücksichtigt man das so genannte Produktivvermögen, also die Anteile an Unternehmen, verschlechtert sich das Bild noch. Beschäftigte im Osten erhalten laut aktuellen Zahlen der Hans-Böckler-Stiftung heute 16,9 Prozent weniger Lohn als ihre Kolleg_innen in den westdeutschen Bundesländern. Ausgelöst wurde die drastische Ungleichheit vor allem durch die Treuhandpolitik und die neoliberale Transformation Ostdeutschlands nach 1990. 80 Prozent der Beschäftigten der DDR verloren im Zuge dieser Transformation ihren Arbeitsplatz vorübergehend oder auf Dauer. Ein Drittel aller volkseigenen Betriebe wurde stillgelegt, der Rest privatisiert. 5% des ostdeutschen Produktivvermögens wurden an Ostdeutsche, 80% wurden an westdeutsche, 15 % an internationale Unternehmen verkauft, oft obwohl sie noch wettbewerbsfähig waren. Auch der Immobilienmarkt ist klar aufgeteilt. Laut Immobilienmarktbericht 2016 wurden 60 Prozent aller Neubauten und 94 Prozent der sanierten Altbauten in Leipzig an Menschen verkauft, die nicht aus Leipzig kommen. Von der Sonderabschreibung Ost profitierten vor allem clevere Westdeutsche, volkswirtschaftlich war sie fatal. Auch ein Großteil des aus der Einkommenssteuer finanzierten Solidaritätszuschlages fließt so als Miete oder über Konsumgüter zurück nach Westdeutschland.

Weil Ostdeutsche weniger als die Hälfte an Geld- und Immobilienvermögen besitzen und Immobilien maßgeblich die Erbschaftshöhe bestimmen, wird die Ungleichheit auch vererbt. Die Erben Westdeutscher profitieren heute ökonomisch nicht nur vom westdeutschen Wirtschaftswunder – das kein Wunder war, sondern dem kalten Krieg und dem Marshallplan zu verdanken war – sondern auch von der Wende. Die Schieflage ist auch bei der Verteilung von Ansehen und Macht eklatant: Nur 23 Prozente Elite in den neuen Ländern in Wirtschaft und Justiz, Politik und Verwaltung, Militär, Medien und Universitäten sind in Ostdeutschland geboren. Bundesweit besetzen Ostdeutsche lediglich 1,7 Prozent der Spitzenpositionen. Stellt man die Linse schärfer und fragt nach älteren Ostdeutschen, nach ostdeutschen Frauen und Schwarzen Menschen und People of Color aus dem Osten verschlechtert sich das Bild noch – auch ostdeutsche Diskriminierung ist intersektional.

Ostdeutsch als Stigma

Ein vorschnelles „selber schuld“ erklärt diese strukturelle Schieflage nicht. Eine solche Argumentation reiht sich vielmehr ein in das Stereotyp einer genuinen Rückständigkeit des Ostens, die auf einen obrigkeitsstaatlichen DDR-Habitus zurückzuführen sei und heute als „Jammer-Ossi“ überlebt. Dieses Stereotyp ist Teil des Problems. Diskriminierung basiert immer auch auf sozialer Stigmatisierung, das gilt für rassistische, sexistische, ableistische Diskriminierung, wie auch für die Diskriminierung Ostdeutscher. Die britische Rechtswissenschaftlerin Iyola Solanke hat dafür das Anti-Stigma-Prinzip entwickelt, das die Rolle von institutionellen und individuellen Faktoren bei der Aufrechterhaltung von Diskriminierung anerkennt. In ähnlicher Weise schreiben Susanne Baer und Nora Markard in ihrer Kommentierung von Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz in dem Grundgesetz-Kommentar v. Mangoldt / Klein / Staeck von Diskriminierungs-„Merk-Malen“ im Sinne von Stigma.

Was macht nun das soziale Stigma „Ossi“ aus? Der gemeine Ossi gilt als provinziell, rückwärtsgewandt und engstirnig, scheut das Risiko, hat Angst vor dem Neuen und dem Fremden, meckert ständig gegen die da oben, gegen die Migration und gegen die Globalisierung, ohne sein Schicksal selbst in die Hände zu nehmen. Wie in anderen Diskriminierungskonstellationen haben wir es hier mit Pauschalisierungen zu tun. Ja, es gibt sie, die ostdeutschen, weißen, zumeist männlichen, weltverschlossenen, rassistischen, antisemitischen und homophoben Pegida-Anhänger. Und eine Kritik an Rassismus und Autoritätsgläubigkeit in der DDR ist dringend angebracht. Doch den gemeinen Ossi gibt es sowenig, wie es die Muslime, die Frau oder den Wessi gibt. In ihrer vergleichenden Studie zu Einstellungen gegenüber Muslimen und Ostdeutschen kommt Naika Foroutan zu folgendem Schluss: Mit der Erzählung eines flächendeckenden braunen Ostens externalisiere „die Dominanzgesellschaft eine Einstellung, die sie ganz stabil auch in sich selbst trägt, auf eine andere Gruppe“ und kann so selbst „demokratischer strahlen“. Mit dem „Stigma des Jammerossis“ würde zudem weggeschoben, dass es im Osten einen berechtigten Grund für Beschwerden gibt.

Die dem Stigma „Ossi“ zugrundeliegenden Stereotype speisen sich aber auch aus einer Tradition des Anti-Kommunismus, für die die DDR im Kalten Krieg das Paradebeispiel auf deutschem Boden gab. Einheitlich grau war es danach in der DDR und arbeitsscheu waren ihre Bewohner*innen. Das antikommunistische Ressentiment überführte sich nach der Wende in die neoliberale Kritik am Wohlfahrtstaat, der -als Versorgungsstaat denunziert- nur antriebslose Bürger*innen produziere. Der „Ossi“ als Projektionsfläche und Abgrenzungsobjekt ist damit nicht weniger als das Gegenteil des neoliberalen Wettbewerbssubjekts, des Homo oeconomicus.

Wenn eine in der DDR geborene Bewerberin, die zwanzig Jahre in Baden-Württemberg gelebt hatte, auf ihr Stellengesuch eine Ablehnung mit den Vermerken „Ossi (–)“ und „DDR (–)“ erhält, dann ist das Ausdruck eben jener Stigmatisierung. Die Fälle der Diskriminierung Ostdeutscher auf dem Arbeitsmarkt zeigen: Es geht vor allem um Zuschreibungen an Ostdeutsche und um gesamtgesellschaftliche Probleme, die, so der Soziologe Wolfgang Engler, „unter westdeutscher Diskurshegemonie zu immer neuen Indizien für die Rückständigkeit des Ostens mutierten“.

Sind Ostdeutsche eine Ethnie? Richtige Antwort, falsche Frage

Wie diskutiert die deutsche Rechtswissenschaft diese Probleme mit Blick auf das AGG? Bislang gar nicht. Zumeist führten Kläger*innen, Beklagte und Gericht eine Auseinandersetzung darüber, ob Ostdeutsche eine eigene Ethnie seien. Paradigmatisch stellte das Arbeitsgericht Stuttgart dazu schon 2010 fest, dass Ost- und Westdeutsche eine „gemeinsame Kultur der letzten 250 Jahre“ teilten und daher Ostdeutsche keine Ethnie i.S.d. AGG seien. Angesichts dessen, dass das Gericht auch urteilte, „dass der Begriff der ethnischen Herkunft auf der manifestierbaren Unterschiedlichkeit der Menschen beruht“, mag man über so ein Urteil geradezu erfreut sein. Oder doch nicht? Auch jene Stimmen, die, wie der Arbeitsrechtler Jobst-Hubertus Bauer, für eine Subsumtion von Ostdeutschen unter die Kategorie ethnische Herkunft plädieren, prüfen die Zugehörigkeit zu homogenen ethnischen Gruppen mit gemeinsamen Dialekten und Traditionen und bejahen diese. Bestehenden Vorstellungen von „den Anderen“ wird so nur eine weitere Legitimation erteilt. Ein naheliegender Grund dafür, Ostdeutsche nicht unter ethnische Herkunft zu subsumieren, fehlt in der Debatte: die Kategorie „Rasse und ethnische Herkunft“ in § 1 AGG geht auf die EU-Anti-Rassismus-Richtlinie aus dem Jahr 2000 zurück, die wie der Name sagt, auf rassistische Diskriminierung regieren sollte. Und die Diskriminierung als ostdeutsch ist etwas substantiell Anderes als rassistische Diskriminierung, auch wenn manche Ostdeutsche von beiden Diskriminierungsformen betroffen sind.

Abwertende Zuschreibungen gegenüber Menschen aus der ehemaligen DDR, ihre ökonomische Schlechterstellung und ihre Unterrepräsentation in Machtpositionen werden in der rechtswissenschaftlichen Diskussion gar nicht vorgetragen oder pauschal zurückgewiesen. So ist in der Rechtswissenschaft 9/2018 zu lesen, der „Ossi“ erscheine als „Deutscher in Deutschland nicht als schutzbedürftig“, da er „jedenfalls nicht der Gefahr systematischer Diskriminierung ausgesetzt“ sei. Daten, die einen solchen Schluss zu lassen, führen die Autor*innen nicht an, stattdessen widmen auch sie sich umfänglich der Frage der Ethnizität. 

Was tun?

Die Diskriminierung Ostdeutscher verweist auf Schutzlücken im Antidiskriminierungsrecht. Die Gefahr ihrer Ethnisierung in rechtlichen Verfahren verweist auf Probleme bei der Anwendung des AGG und auf die Fallen essentialistischer Identitätspolitiken. Wie kann also Antidiskriminierungsrecht diesen Problemen gerecht werden? Eine eigene Kategorie „ostdeutsche Herkunft“ sähe sich dem Dilemma der Reproduktion essentialistischer und homogenisierender Vorstellungen von Zugehörigkeit ausgesetzt. Dabei geht es nicht darum, wer oder wie Ostdeutsche sind oder welche Weltanschauung sie haben. Es geht um stigmatisierende Zuschreibungen in konkreten Fällen, die mit strukturellen Ungleichheitslagen und diskursiven Tradierungen im Allgemeinen einhergehen. Eine Lösung wären offene Listen von Diskriminierungskategorien, wie sie zum Beispiel Art. 14 Europäische Menschenrechtskonvention und Art. 21 Charta der Grundrechte der Europäischen Union enthalten, in Verbindung mit einem Verständnis von Diskriminierung als Stigmatisierung. Auch dem deutschen Recht sind offene Kataloge nicht fremd, so untersagt § 75 Betriebsverfassungsgesetz eine Benachteiligung „insbesondere“ aus den dort genannten Gründen. Wer Diskriminierungsschutz ernst nehmen will, kommt damit um eine Reform des AGG sowenig herum, wie um eine Analyse der strukturellen Diskriminierung Ostdeutscher. Dann können wir auch über Sinn und Zulässigkeit von Quoten sprechen.

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